Freitag, 14. September 2012

Deutsche Eichen oder Pogrom (2)



Das Kapital nimmt von seinem Geltungsdrang niemanden aus und wofür es als abstrakte Form blind ist, wird von der nationalen Souveränität als die Kriterien diktiert, wer eine Funktion einzunehmen berechtigt ist und wer nicht. An den Geflüchteten aus den Akkumulationsruinen und vor den diversen krisenexorzierenden Despotien, wie dem Iran, wird demonstriert, dass eine Funktion eine Ehre ist, viel mehr noch ein Privileg: völkisch authentifizierte Kapitalproduktivität und rassisch verbriefte Staatsloyalität. So markieren die Souveräne - der griechische in Ansehung des finanziellen Ruins nun mehr panischer als der deutsche - das flüchtige Leben als Agentur einer noch bedrohlicheren Krise: die Zerfräsung der nationalen Identität. Und so werden die Razzien des Souveräns gegen die Geflüchteten komplementiert durch Eigeninitiative der mit ihm Identifizierten: durch die regressive Assoziation als barbarische Horde wider die national nicht-identische Konkurrenz.

Wenn der faschistische Agitator der Goldenen Morgendämmerung, Ilías Kasidiáris, schnaubt, die griechische Ackerscholle werde zu einer Deponie des unwerten Lebens, spricht er aus, was die Krise aus sich heraus produziert: die Müllwerdung der Menschen in Ansehung ihrer absoluten Fungibilität vor dem Kapital. Doch sind dem nationalen Ideologen Kasidiáris die Griechen Material von edlerem Wert, dem die Kompostierung im Volk ein Naturrecht ist. Das unwerte Leben ist ihm das flüchtige, dass allein dadurch anrüchig ist, weil die Geflüchteten dem nationalen Diktat über das Recycling sich entziehen und, ohne als solche lizenziert zu sein, als potenzielle Konkurrenten sich bemächtigen. Noch mehr sind sie den Europäern die bösen Propheten der auch ihnen einhausenden Fungibilität vor dem Kapital und so eskaliert im Hass auf die Geflüchteten die pathische Panik vor der drohenden Verwilderung des eigenen Arbeitskraftbehälters. Es wird den Geflüchteten zum Unglück, dass sie als rohe Natur erscheinen, als parasitäre Organismen, und doch nicht von der Natur sind, zu der das Kapital alles verwandelt hat.

Die Goldene Morgendämmerung ist nur die faschistische Avantgarde, ein sieben Prozent Racket, doch dessen Hass auf die Geflüchteten für so viele spricht. Als der griechische Souverän im August begann, hunderte wild Migrierende in einer früheren Kaserne des griechischen Militärs in Korinth zu konzentrieren, verriet sich, dass die Nation nur die Form ist, in der sich Konkurrenz ausagiert: Die Korinther Lokalpolitik fühlt sich von Athen übermannt und kappte, um sich zu rächen und die Abladung der Geflüchteten irgendwo anders zu erzwingen, die Kaserne von der Wasserzuleitung, während die Korinther, unter Agitation der Goldenen Morgendämmerung, die Zufahrt zur Kaserne blockierten als wären die Geflüchteten, die der Souverän einfahren will, nuklearer Müll. Während der griechische Souverän, hier ist er noch wer, allein mit der „Operation Xenios Zeus“ 6.400 Geflüchtete inhaftierte, will niemand mehr diesen menschlichen Müll, zu dem die Geflüchteten systematisch erniedrigt werden, zwischenlagern. Ihr Anblick provoziert – wie der Geflüchtete aus der irakischen Hölle, der am 13. August auf einer Athener Straße ermordet worden ist. 

Das Antlitz der Zivilisation ist dünnhäutig. Von außen droht wilde Migration als zersetzende Nichtidentität und von innen zigeunerische Untermenschen und jüdische Übermenschen. „Der viehische Mörder war ein Zigeuner“, dröhnt es aus Zsolt Bayer, Agitator der Magyar Hírlap und Mitinitiator der nationalkonservativen Fidesz, nach einem Sexualmord an einer Frau im ungarischen Pécs. Wenn die Zigeuner „diese Mentalität ihrer Rasse nicht ausrotten“, so Bayer, hätte jede friedliche Koexistenz ein Ende. Der Pogromist spricht sein Plädoyer, bevor er sich des Mordes schuldig macht. Wenn er über das ganz Andere geifert wie zuvor jeder andere faschistische Agitator auch, spricht er von nichts anderem als sich selbst: er will den Tod des Anderen und so muss das Objekt seiner Pogromlust als Kollektivbestie, die im blutigen Ritus die Nation schände, erscheinen. In der Projektion auf das rassisch geächtete Objekt, der halluzinierten Gegenidentität, wird die böse Ahnung anästhesiert, dass die eigene nationale Identität nur noch im Mord zur Geltung gebracht werden kann.

Wie jüngst in Cegléd und Devecser balancieren der Souverän und die pogromistischen Rackets aus, wie weit die Gewalt diversifiziert und externalisiert wird. Völkische Freischärler ahmen der Hamas nach und drillen Kinder in Feriencamps auf das Opfer für die Nation. Und als Reaktion zentralisiert der nationale Souverän das militaristische Einpauken des Tötens und forciert unter Integration jener völkischen Militaristen als versierte Instrukteure die patriotische Erziehung, die noch ergänzt wird durch die administrierte Lektüre antisemitischer Publizisten wie Dezso Szabó und dem Pfeilkreuzler und Goebbels-Verehrer József Nyiro, bei denen sich auch die psychotische Identifikation des Juden mit Liberalität und kommunistischer Subversion findet, die im heutigen Ungarn lebendiger ist als je zuvor.

Eine weitere böse Ahnung von der Diversifikation der Gewalt erfuhr man im Oktober 2010 im ungarischen Miskolc, wo elf Roma für „rassistische Gewalt“ schuldig gesprochen worden sind. Über 41 Lebensjahre stundet die Justiz, weil die Beschuldigten im März 2009 ein völkisches Rollkommando militant erwiderten. Unerschrocken marschieren indessen die faschistischen Gardisten auf, wie am 25. August 2012 in Budapest unter dem Gebrüll „Tod den Zigeunern“ und „Verschwindet, ihr dreckigen Juden“ – doch ist es mit Ferenc Bagó ein ungarischer Rom und jüngst inhaftierter Initiator einer militanten Defensive, an dem der nationale Souverän sein Gewaltmonopol demonstriert. 

Was der westeuropäische Kommentar auf den nationalistischen Furor nur zu oft als slawisches Zivilisationsdefizit abtut, ruht in der zwieschlächtigen Natur der kapitalisierten Sozietät selbst. Zwar abstrahiert das Kapital von allem, was vor ihm war, um die Subjekte zu konstituieren, dahingegen integrieren sich die Subjekte in das falsche Ganze im Rekurs auf jenes, wovon das Kapital zuvor noch abstrahierte: Souveränität als ehrwürdiges Patriarchat, Sozietät als Blutsbande, nationale Identität als feudales Privileg. In der Genese nationaler Identität reproduziert sich jene Totalität aus Abstraktion und Integration konkret-personaler Gewalt, die das Kapital als ein universales Zwangsverhältnis ausmacht. Dass Millionen zusammengerotteter Menschen eine identische Identität haben, ist positiv nicht nachzuempfinden. Identität duldet keine Differenz, sie hat sich negativ zu realisieren: indem eine souveräne Gewalt von den empirisch konkreten Individuen abstrahiert und sie als fungible Exemplare funktionalisiert für Zwecke, die ganz andere sind als die ihres individuellen Glückes. Wie die sinnlichen Dinge unter den totalen Charakter der Ware gezwungen sind, so die konkreten Menschen überdies unter den der nationalen Identität (1) - und ohne gewaltförmige Homogenisierung, in der die Abstraktionen real werden, weder die Sozietät der Ware noch die Nation. Die Konversion der Exemplare der kapitalisierten Gattung zu Deutschen oder Magyaren exemplifiziert nur zu drastisch, dass in der kapitalisierten Sozietät die Irrationalität, die vor ihr in allem und jedem hauste, nicht verschwand, viel mehr, in sich wandelnder Form, sich potenzierte. Die agrarischen Subsistenzproduzenten mussten noch um die elendigste Scholle und den zornigsten Herren gebracht werden, um in der Konkurrenz, in die sie gezwungen wurden, zu dem falschen Bewusstsein zu kommen, mit der Scholle, von der sie vertrieben wurden, verwurzelt zu sein und für sie, wo nun Produktionshöllen und Kasernen aus ihr sprießen, das Leben zu opfern.

Die kapitalisierte Sozietät hat zwar die Produktivkräfte revolutioniert, so dass Hunger und die ruinöse Verwertung des menschlichen Körpers ein Ende haben könnten - doch das sinnvergessene Produzieren unter der Despotie des Wertgesetzes ist sich selbst alleiniger Zweck, Hunger provoziert nur Scham und Charity. Die kapitalisierte Sozietät hat zwar überdies die Physik, die Astronomie und so weiter von der Rache der Inquisition enthoben, sie hat die Religionskritik wie jede weitere Aufklärung protegiert, so dass die Umnachtung der Menschen ein Ende haben könnte - und reizt doch den Drang der Subjekte nach Aura-Healing und Anthroposophie, nach Märtyrertod und Paradies aus.

Der Zwang, eine kapitalproduktive Funktion einzunehmen, hat sich im Geld objektiviert, ein jeder ist beherrscht von Abstraktionen. Um die Abstraktionen zu bewältigen, die das Kapital den Subjekten abverlangt, drängen sie zu etwas Konkretem. Die zu Deutschen konvertierten Produktivbestien sind in der Ideologieproduktion, ohne Zweifel, Avantgarde. Ihnen wurde das sinnvergessene Produzieren zu einer Berufung, zu einem nationalen Ethos, der Zwang zu etwas Intimes und Erotisiertes; sie prügelten dem Sinnlosen Sinn ein. Zwar sind die Menschen zur Versöhnung mit dem Zwang, als Quäntchen abstrakter Arbeit dahinzusterben, allein dadurch erpresst, dass darin ihre soziale Qualität liegt, doch, vor allem in der Krise, braucht es ein Gegenprinzip, an dem die falsche Versöhnung sich gegen jeden Zweifel panzert. Es ist ‚das Jüdische’, welches anrüchig ist, die Inkarnation der Zirkulationssphäre zu sein, in der der Wert ehrlicher Arbeit parasitär zersetzt werde und es ist ‚das Zigeunerische’, das als Genuß ohne kapitalproduktives Opfer und als parasitäre Reproduktion von lebensunwerter Natur erscheint. Bereits Martin Luther kontrastierte die „deutsche ehrliche Arbeit“ mit dem „jüdischen Wucher“ und kalkulierte kühl die Zwangsverpflichtung als Arbeitskräfte ein, um dann doch das Pogrom mit dem Zweck der Verflüchtigung von ‚Wucher-Juden’ und ‚Bettel-Zigeunern’ zu favorisieren. Was ‚jüdisch’ und ‚zigeunerisch’ ist, definiert der Projizierende selbst; die Stereotypisierungen entziehen sich der Empirie und sind nicht selten die zynische Rationalisierung der eigenen Gewalt, die dem Objekt angetan wird. So ist es zwar ein Fakt, dass prozentual nur wenige ungarische Roma eine kapitalproduktive Funktion einnehmen, wie aber auch, wo sie aus der Produktion rassistisch verdrängt sind. Der Hass ist keine Reaktion auf die empirische Erscheinung des Anderen, denn pathische Projektion gehorcht dem, wozu die Projizierenden gezwungen sind, es sich selber anzutun. Der antiziganistische Hass komplementiert hierbei den antisemitischen: wo sich das Subjekt einen Übermenschen halluziniert, verlangt es auch nach einen Untermenschen, um sich selbst auf die Höhe des Volkes wie des kapitalen Wertes zu erheben. Und so projizieren die kriselnden Subjekte die Panik vor der eigenen Liquidation vor dem Wert auf  ‚die Zigeuner’ und Geflüchteten, denen kein Souverän Subjektivität zu garantieren wagt (2).

Wo das Kapital den Subjekten ein böses Rätsel ist, werden diese, sobald sie es konkretisieren, also entzweien in anrüchige Zirkulation und ehrwürdige Produktion, zu Propagandisten einer durch die Natur authentisierten Despotie des Wertgesetzes, die von allem, was nicht hiermit identisch ist, sich zu entladen sehnt: von den Untermenschen, mit denen die Krise der dahinschwindenden Subjektivität sich bedrohlich zu nähern scheint, und von den Übermenschen, denen der christliche Antijudaismus das Stigma der notorischen Konspiration gegen die göttliche Autorität eingebrannt hat und deren kosmopolitische Mobilität mit der vom Kapital ideologisch abgespaltenen Zirkulationssphäre, mit dem Geld, assoziiert wird. Eine solche Schizophrenie – die Identifikation mit dem Kapital bis in den Tod und die synchron eskalierende Aversion gegen das Abstrakte – ruht in dem objektiven Verhängnis, dass zwar die individuelle physische Reproduktion der Subjekte mit der Verwertung des Wertes in eins fällt, letztere aber als Selbstzweck die Subjekte mit ihrem genetischen Defekt der absoluten Fungibilität konfrontiert.

Der nationalistische Furor bricht also nicht – wie nur zu oft suggeriert - vom Osten über Europa ein, wie die Krise haust er in der kapitalisierten Sozietät. Die folgenschwerste Serie antiziganistischer Morde und Pogrome nach 1945 geschah unter den Augen des deutschen Souveräns. In der Morgendämmerung des 29. Juni 1992 sackten Grigore Vîlcu und Eudace Caldera auf einem mecklenburg-vorpommerischen Getreideacker in sich zusammen. Zwei Deutsche, auf der Jagd nach Wild, hätten sich in ihnen geirrt  - und wer unterscheidet denn bei Dämmerung Rumänen von Wildschweinen? Bei mindestens einem Ermordeten dauerte es noch Stunden bis er den schweren Blutungen erlag – doch niemand half ihm. Seit 1989 lebte Grigore Vîlcu im deutschen Exil. Nachdem das Grab seiner Mutter, die als Asylsuchende in der mecklenburg-vorpommerischen Provinz verstarb, systematisch geschändet wurde, sah sich Grigore Vîlcu gezwungen, seine Mutter dorthin umzubetten, von wo sie vor Elend und Hass geflohen war. Hierfür musste er illegal nach Rumänien ausreisen, denn anders wäre er nicht an die Papiere gekommen, die von den Apparaten für eine Umbettung verlangt worden sind. Bei seiner Wiedereinreise starb er – erlegt wie Wild. Zwei Monate nach den Morden wurde das juristische Detail der systematischen Abschiebungen von Bettel-Rumänen und anderen Hassobjekten der Deutschen im Pogrom erzwungen. Dass kein Mensch zwischen dem 22. und 26. August 1992 starb, lag nicht an fehlendem Engagement oder einem rabiaten Zugriff des Souveräns. Die Verfolgten haben Glück im Unglück gehabt – mehr nicht. Noch im selben Monat honorierte die SPD mit den Petersburgern Beschlüssen die Vitalität deutscher Pogromisten und am 6. Dezember 1992 folgte dann auf das Pogrom der Asylkompromiss, so dass im Mai 1993 auch die Familie von Grigore Vîlcu abgeschoben werden konnte. Der Asylkompromiss machte den Beginn mit der Delegierung des Migrationsregimes an die äußerste, also griechische und ungarische Front Europas, an die vielen ausgelagerten Ilías Kasidiáris’. Mit dem Kalkül, dass der drohende Tod sie hinhalte, zwingen sie die Flüchtigen auf die riskantesten Routen.


(1) Das Kapital scheidet zwischen phänomenalem und funktionalem Menschen, indem es ihn als lebendes Vehikel der Ware Arbeitskraft identifiziert, alsdann scheidet es zwischen wahrem und falschem Bedürfnis: um ein Bedürfnis zu befriedigen, muss dieses die Wertform annehmen. Die sinnlichen Begierden der konkreten Individuen werden so heruntergebracht auf die bloße Funktionalität für das Kapital. Die Reduktion auf die Funktionalität für das Kapital und die Identifizierung als national identisches Exemplar sind die zwei Seiten desselben Zwangsverhältnisses. Sie komplementieren sich und kommunizieren wechselseitig über die feindselige Nichtidentität: ‚den parasitären Zigeuner’, ‚den jüdischen Kosmopolit’, etc.  Subjekt wird man also nur durch die repressive Vergleichung durch das Dritte von Staat und Kapital hindurch.
(2) Es ist nur ein schwacher Trost für die vom Pogrom bedrohten Menschen, doch ‚der Zigeuner’ nimmt auch in der bösartigsten Projektion nicht die Funktion des ‚Juden’ ein, das abstrakte Moment des Kapitals zu personifizieren. An der projektiven Figur der ‚jüdischen’ wie ‚zigeunerischen Nicht-Arbeit’ brütet sich der Zwang, eine kapitalproduktive Funktion einzunehmen, sein Gegenprinzip aus - und so ist das ‚zigeunerische’ Stereotyp auch ein zentrales Moment des Hasses auf die Juden. Doch der Figur ‚des Zigeuners’ als in Lumpen gehüllte Natur, als mit „Menschenhaut nur überzogene Bestie“, mangelt es an der Qualität, mit Geld zu jonglieren. Er sei gezwungen, parasitär dahinzuleben, weil er sich der Anwandlung an die Maschinerie entziehe und so oder so ein Vehikel minderer Produktivkraft sei, er also nur das Geld gebraucht, das er erbettelt. Er provoziert Neid und Hass sowie nicht selten auch eine romantizistische Faszination, weil ihm die Unkosten der Subjektwerdung erspart seien und er in Sippe und Clan dahinlebe. ‚Der Jude’ dagegen muss als halluzinierte Verfleischlichung des Geldes, das die materielle Repräsentanz der Abstraktion ist, auch die fetischisierte Charakteristik des Geldes verfleischlichen: universale Geltung und teuflische Magie. Als Magier der Zirkulationssphäre ist die Figur ‚des Juden’ immer auch beides: ein das Volk aufwiegelnder Kommunist und die Produktion sabotierender Spekulant, ein Rassist von Gottes Gnaden und antinationaler Kosmopolit, ein religiös Besessener und atheistischer Zersetzer.