Freitag, 16. Dezember 2016

Flugschrift: Von der syrischen Katastrophe zur Demokratie der Märtyrer



Die Skala an Meinungen über die syrische Katastrophe ist so breit nicht. Die Denkform, die Antiimperialisten Syrien überstülpen, lässt sich auf folgendes herunterbrechen: die Erhebung gegen einen Präsidenten, der Israel für seinen einzigen Feind hält, kann nur eine Intrige von ganz anderswoher sein. Womit sie – seien es nun die Alois-Brunner-Gedenkkorps in Damaskus oder die türkische Vaterlandspartei – drohen, ist bei allen dasselbe: nationale Souveränität. Und wer die Abstrakta Souveränität und Volk konkretisiert ist ihnen unstrittig: Bashar al-Assad, ein „stiller, nachdenklicher Mann“ (Jürgen Todenhöfer). Ausgerissene Fingernägel sind ihnen ein ständiges Plebiszit.
Die ideologiekritischen Denunzianten der „syrischen Revolution“ halten es nicht mit Bashar und noch weniger mit dem Volk. Sie mißtrauen von Grund auf der Erhebung der arabischen Pauperisierten. Doch die Konsequenz aus diesem Mißtrauen, die zu ziehen wäre, sich mit den allein gelassenen Säkularen zu assoziieren, ihnen mit dem Gröbsten beizustehen, bleibt gänzlich aus. Ideologiekritik ist heruntergebrochen auf die Retirade in die Geborgenheit des eigenen theologischen Seminars. Den Freunden der „syrischen Revolution“ dagegen ist die Jihadisierung der Zufallsguerilla vor allem Folge ihrer Verlassenheit. Dabei war diese nie allein gelassen – ganz anders als nichtmilitärische Oppositionelle. Die Emissäre türkischer und katarischer Muslimbrüder sowie der saudischen Despotie haben die Guerilla akribisch im Geiste der eigenen Staatsideologien organisiert. So beschriften panturkistische Brigaden, flankiert von der institutionellen türkischen Guerillaorganisation MİT, ihre Artilleriegeschosse mit den Namen ihrer ideologischen Ahnen: Enver Paşa, jungtürkischer Mitorganisator des Genozids an den anatolischen Armeniern, etwa oder Muhsin Yazıcıoğlu, Gründer der „Partei der Großen Einheit“ und Hauptinitiator des antialevitischen Pogroms von Maraş im Jahr 1978. Jeder kann wissen, wer Idlib erobert oder sich im östlichen Aleppo eingegraben hat, sie haben Namen, Embleme, Twitter, Public Relations. Ihre Drohung an die mit dem Regime identifizierten Minoritäten ist nicht weniger konkret als die Bashar al-Assads an die Abtrünnigen der Republik der Angst: Entweder seid ihr mit uns und oder ihr werdet zermalmt.

Über die ländliche Peripherie sind die sunnitischen Militanten ab Ende Juli 2012 nach Aleppo eingesickert, die logistische Flanke erfolgte aus der Türkei. Unter ihnen von Beginn an überzeugte Feinde eines säkularen Syriens wie Harakat Nour al-Din al-Zenki, deren Militanten es als Publicité verstanden, als sie einem feindlichen Kindersoldaten lachend die Kehle durchschnitten, oder die saudisch inspirierte Asala wa-al-Tanmiya in der Tradition des salafistischen Obskurantisten Rabi al-Madchali. Militärische Solidarität mit diesen Warlords – und sie sind es, die übergeblieben sind – kann nichts anderes heißen als die Verewigung des Schlachtens. Es ist eine Mär von der alleingelassenen Guerilla. Sie konnte jahrelang auf die Generosität und imperialen Ambitionen allen voran der Türkei und Qatar vertrauen.

Doch das ist allerhöchstens die halbe Wahrheit: Wer in diesen Tagen die Ruinen des östlichen Aleppos nach Abtrünnigen durchkämmt, bringt die höchste Expertise im blinden Rächen mit. Wo Badr Corps, Kata'ib Hezbollah, und Asa'ib Ahl al-Haq, die der klerikalfaschistische Iran in die syrische Hölle abkommandiert hat, herrschen, werden nicht nur die verbliebenen Sunniten als Sühneopfer für die erlebte Hölle unter Saddam Hussein und seiner Auferstehung im „Islamischen Staat“ verfolgt. Wo sich ihr Zugriff auf das Leben konsolidiert, werden unnachgiebig alle als lebende Beleidigung des verborgenen Imams identifiziert, die an ein fernes Leben außerhalb der Männerrotte, die in irakischen Slums längst zum entscheidenden ökonomischen Faktor geworden ist, erinnern: vermeintliche Homosexuelle, unverschleierte Frauen, junge Liebespärchen.

Während die sunnitische Auswanderung nach Syrien mit Hunderten von Blutrünstigen mit Namen wie al-Almani, „der Deutsche“, und al-Belgiki, „der Belgier“, ihren Schatten auf Europa wirft, ergänzen inzwischen ganze Milizen aus dem proklamierten schiitischen Halbmond die Front Bashar al-Assads, wie die afghanische Hezbollah, die pakistanische Liwa Zaynabiyun und die jemenitische Ansar Allah. Wie ihre sunnitischen Komplementäre bestehen sie nicht ausschließlich aus ideologisch durch und durch stramme Kader. Viele der zwischen 10.000 und 12.000 afghanischen Milizionäre in Syrien lebten zuvor als Geflüchtete im Iran unter einem Regime, das wahrlich als Apartheid zu denunzieren wäre. Der Iran drängt sie mit dem Versprechen einer Legalisierung ihrer kümmerlichen Existenz in die tarnfarbende Kluft. Es erinnert an die Ein-Kind-Politik des viel beschworenen Stabilitätsgaranten in den 1980er Jahren. Tausende Kinder wurden ihren Familien abgepresst und gezwungen, eingegrabene explosive Metallkörper an der irakisch-iranischen Front zu neutralisieren. Versprochen war den Kindern das Paradies, den Familien die Güte des revolutionären Staates. Inzwischen droht der Iran, ein „Anker der Stabilität“ (Hassan Rouhani, aber nur die wenigsten europäischen Staatsmänner würden ihm widersprechen), siegestrunken an, auch im Jemen und Bahrain eine Entscheidung in der blutigen Rivalität mit Saudi-Arabien zu erzwingen.

Wer zwischen diesen Feinden des Lebens ausharrt, ist wahrlich alleingelassen. Doch das Interesse von ihnen zu erfahren, ihnen, wenn auch mit weniger als dem Gröbsten, beizustehen, existiert nur bei den Wenigsten. Razan Zaitouneh etwa ist eine der Begründerinnen des Violations Documentation Center, mit dem die Geiseln und Toten der politischen Ökonomie der Haft, die das Regime und seine militanten Feinde installierten, dokumentiert werden. Um den Schergen Assads zu entkommen, übernachtete Razan nahezu täglich woanders. In Ghouta, östlich von Damaskus, wurde sie am 21. August 2013 Zeugin des Erstickungstodes und empörte sich über die zynische Resolution der „Vereinten Nationen“, die den Verbleib Assads als syrischen Präsidenten legitimierte. Kein halbes Jahr später wurden sie und ihre Freunde Samira al-Khalil und Nazem Hammadi sowie ihr Mann Wael Hamada verschleppt. Doch nicht durch das Regime, ihre Familie beschuldigt die Jaysh al-Islam, den mächtigsten Warlord in Douma, finanziert durch die Saudis. Razan und ihre Freunde, die „Douma 4“, sind bis heute verschwunden – und keiner fragt inzwischen mehr nach ihnen. Über 200.000 Menschen wurden in den vergangenen Jahren verschleppt und ihre Angehörigen erpresst, mehr als 11.000 Menschen sind in den Fängen ihrer Peiniger, in der Mehrheit regimeloyale Banden, gestorben. Wiam Simav Bedirxan erzähltin der bedrückenden Filmdokumentation über die Ruine Homs „Silvered Water, Syria Self-Portrait“ von dieser beidseitigen Bedrohung durch das Regime und islamistische Banden.
Damit, dass die Freunde der syrischen Opposition so abstrakt von „den Rebellen“ daherreden, helfen sie den realen Oppositionellen nicht. Es gibt sie noch, die säkularen Streiter eines Syriens für alle. Manche sind gezwungen, sich mit der vorherrschenden Bande zu arrangieren, um die beidseitige Bedrohung standzuhalten. Hin und wieder werden sie auch porträtiert – mit der Ungewissheit wie lange sie noch leben. Auf Gnade des Regimes können sie als letztes hoffen. Mit der Einnahme des östlichen Aleppos geht ein weiteres perfides Detail der syrischen Katastrophe einher. Vladimir Putin, militärischer Patron Assads, und Recep Tayyip Erdoğan, oberster Warlord der sunnitischen Militanten, feilschen um die Garantie dafür, dass den Militanten der Abzug aus Ostaleppo nach Idlib gewährt wird. Über ein Gespräch mit Putin hatte Erdoğan noch im November gesagt, dass er „unsere Freunde“ darin instruiert habe, die Jabhat Fatah al-Sham zum Verlassen Aleppos zu bringen. Mit „unseren Freunden“ meint Recep Tayyip nicht die syrische al-Qaida selbst, wie man denken könnte, viel mehr die Staatsbediensteten an der Front, etwa des MİT. Von Idlib aus, so droht es, könnten die Militanten in die „Operation Euphrates Shield“ gegen ein föderales und säkulares Nordsyrien integriert werden. Aus Rache für Aleppo terrorisieren sie währenddessen noch die schiitischen Exklaven al-Fu'ah und Kafriya in Idlib.

Die syrischen Taliban der Ahrar al-Sham* sind inzwischen zum wesentlichen Koalitionär der türkischen Militärkampagne in Nordsyrien geworden. Sie bewegen sich auf al-Bab zu, Aleppo dient ihn allein noch zur Propaganda eines neuen Srebrenica. Die Mobilisierung gegen die konfessionellen Feinde der ahl as-sunna, des „Volkes der Tradition“, erfolgt in der Türkei über die islamistische Charité İHH, die berüchtigte Ensar Vakfı, die Parteijugend von Millî Görüş: Anadolu Gençlik, und auch über das Diyanet selbst, der höchsten islamischen Autorität in der Türkei. Die Mobilisierung etwa vor das iranische Konsulat in Istanbul dient nicht der wirklichen Konfrontation mit dem Iran, viel mehr der staatstragenden Inszenierung als sunnitisches Opferkollektiv. In der Konsequenz ist die Teilnahme der nationaljihadistischen Banden – bislang noch mit Ausnahme der syrischen al-Qaida – an dem türkischen Militäreinmarsch auch eine indirekte Entscheidung im Interesse des „Regimes der Rafida“. Sie kamen ihren Glaubensbrüdern nicht in der Schlacht um Aleppo bei, viel mehr instruierte sie der türkische MİT in der Einnahme von Cerablus und dem Einschlagen eines sunnitischen Keils inmitten eines föderalen Nordsyriens.

In den ganzen Jahren der syrischen Katastrophe haben die Freunde des „Vereins freier Menschen“ (Marx) keine syrischen Mitstreiter gefunden. Nicht, weil es diese nicht gibt: weil sie nicht nach ihnen geschaut haben. Seit dem 11. September 2001 ist die orientalische Despotie mit ihren antisemitischen Implikationen zentraler Gegenstand ideologiekritischer Indignation, doch bis heute haben ihre Protagonisten, mit wenigen Ausnahmen, keine syrischen Genossinnen und Genossen. Der großartige exilierte Kritiker des kulturellen Relativismus, Sadiq Jalal al-Azm, lebte die vergangenen Jahre in Berlin, doch niemand lud ihn zum Gespräch, nirgends kursierten seine Schriften in Lesezirkeln, dafür geifert man über abtrünnige Diskursgauner. Am 11. Dezember ist Sadiq al-Azm verstorben.**

Ohnmächtigkeit wäre noch human, was vorherrscht ist kaltes Desinteresse. Die wenigen, die sich für Syrien interessieren, lassen Mythen ranken um die von allen alleingelassenen Militanten. Doch so phlegmatisch ist Europa nicht. Die zivilisierte Verachtung gegenüber der Schießbefehl-Forderung deutscher Nazis ist eingekehrt in die europäische Flanke des türkischen Todesstreifens entlang der syrischen Grenze. Jene, die aus Aleppo und anderswo flüchten, werden spätestens hier wieder durch einen ganz konkreten Schießbefehl in die syrische Hölle abgedrängt. In Griechenland ist jene religiöse Minorität der Eziden, die der „Islamische Staat“ beinahe ausgerottet hat und die in der Türkei zur Konversion gedrängt wird, gezwungen, in Slums auszuharren. Es ist naheliegend, wo konkrete Solidarität zu greifen hätte.

Doch auch die nächste drohende Katastrophe lässt man unaufgeregt auf sich zu kommen. „Als wir auf diesen Weg aufgebrochen sind“, so Recep Tayyip Erdoğan, „haben wir das Leichentuch angelegt“. Es sei die „höchste Ehre“, so der türkische Staatspräsident, „die Stufe des Martyriums“ hinaufzusteigen. Sein Minister Mehmet Özhaseki ergänzte jüngst bei einer Ansprache vor Polizisten: „Wir sind alle Anwärter, Märtyrer zu werden. Falls Allah es so vorsieht, werde ich zum Märtyrer. Hoffentlich werde ich auch Märtyrer“. Doch bescheiden wie sie sind überlassen die Muslimbrüder in Amtswürden diese Ehre anderen. Das administrative Diyanet wirbt in Comics bei Kindern für die Schönheit des Märtyrertodes. Händchenhalten unter Verliebten sei dagegen unsittlich. Ein Lehrer einer Elementarschule in Istanbul lässt seine Schüler vor einer ausgeschmückten Märtyrerecke mit Galgen posieren. Dies ist das Programm des Onkelstaates der Muslimbrüder: die Verherrlichung des Todes und Rache als kollektive Übung.

Die Teyrêbazên Azadîya Kurdistan, die „Freiheitsfalken Kurdistans“, eine undurchsichtige Bande nationalistisch Verrohter, empfiehlt sich dabei den Muslimbrüdern nachdrücklich als Komplementär an. In Beşiktaş, wie zuvor in Ankara, schlugen ihre suizidalen Märtyrerkommandos dort zu, wo das Leben anderntags noch gefeiert wird, in den Refugien lebensfroher Laizisten. Die Detonationen gelten türkischen Militärs und Polizisten, doch der Tod Unschuldiger wird kühl einkalkuliert. Während man über die „Freiheitsfalken“ nur wenig erfährt – die PKK laviert ihr gegenüber zwischen entschiedener Distanzierung und väterlichem Tadel, manch einer spekuliert auf eine Infiltration durch den MİT –, schlägt der Staat gnadenlos gegen jene zu, die sich gegen die beidseitige Eskalation stemmen. Innerhalb von 48 Stunden nahmen Polizisten 568 Parteifreunde der Halkların Demokratik Partisi sowie der verschwisterten Kommunalpartei Demokratik Bölgeler Partisi in Haft. In den gerazzten Bezirkszentralen der Partei hinterließ die Polizei wie jede andere Gang ihr Graffiti: „Wir waren hier, doch ihr wart nicht da“. In Cizre und anderen Ruinen im Südosten, wo es kaum anders aussieht als in Aleppo, prangt an vielen Fassaden in verschiedenen Varianten eben jenes „Geldik Yoktunuz“, eine Verhöhnung der in die Flucht Gezwungenen. Der Abgeordneten Besime Konca drohten Polizisten während ihrer Inhaftnahme: „Du gehörst in den Sarg oder in den Knast“, über Stunden berieselte man sie mit Militärmärschen. Der Vater einer der zivilen Toten von Beşiktaş empörte sich darüber, dass der Staat seinen Sohn einen „Märtyrer“ nennt. Sein Tod habe keinen Sinn gehabt, er wurde ermordet. Noch sind die individuellen Widerstände gegen die Märtyrerisierung nicht erdrückt.

Was auch mit Blick auf den Iran im Jahr 2009 und wenig später auf Syrien beschämend war – man wisse ja nichts konkretes, wer und wo denn die Oppositionellen seien – blamiert sich in der Türkei vollends. Jeder kann wissen von den Frauenprotesten unter den Bannern „Beharrlich für Freiheit und Laizität“ und „Für unser Lebenüben wir Widerstand gegen männliche und staatliche Gewalt“. Es interessiert nur nicht, denn die Indignation der Unfreiheit, die Denunziation der Unmündigkeit sind überhaupt nicht als praktisch werdende Universalerzählung gedacht, sie dienen einzig dem eigenen intellektuellen Wohlempfinden.


* Die Ahrar al-Sham preist die afghanischen Taliban dafür, dass sie gelehrt haben, „wie das Emirat in die Herzen des Volkes gepflanzt wird, bevor es Wirklichkeit auf dem Boden wird“.

** Danke an Andreas Benl, der mich an Sadiq al-Azm erinnerte. 

Donnerstag, 17. November 2016

Der Atem wird ihnen abgeschnürt – Flugschrift in Solidarität mit den Bedrängten



Fırat Kalkanı Harekâtı, „Operation Euphrates Shield“, so der Name jener türkischen Militärkampagne im nördlichen Syrien, deren Erweiterung auf den Irak Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan unlängst androhte. Nahezu fatalistisch ertrug die Türkei die Existenz einer apokalyptischen Poststaatlichkeit entlang ihrer Grenze zu Syrien, deren Emire noch in der anatolischen Provinz Schläfer positionierten. Doch selbst das suizidale Massaker in Ankara, der Kapitale der Republik, brachte den türkischen Souverän nicht dazu, das Nadelöhr der Schläfer, das Grenzstädtchen Cerablus, zu verplomben, ihre Logistik konsequent aufzuheben und die Mörder auch über Grenzen zu verfolgen. Es ist viel mehr das drohende Ende des „Islamischen Staates“ selbst, das Erdoğans jüngsten militärischen Drang provoziert. Denn wenn Recep Tayyip Erdoğan eines mit dem Regime der syrischen Hizb al-Ba‘ath sowie mit dem Iran teilt, dann dass ihnen alle die Existenz des „Islamischen Staates“ im Kalkül lag. Für die türkischen Muslimbrüder fungierte der „Islamische Staat“ als suizidaler Konter auf jene, die auch im türkischen Boulevard als „Zoroastrier“, „Feueranbeter“ und „Atheisten“ denunziert werden; für Bashar al-Assad, als „Nusairier“ dem Kalifat ein Ungläubiger, zwang der „Islamische Staat“ die militante Opposition gegen das Regime in eine weitere Front und noch der Iran, sein ideologischer Komplementär, erschien im Schlagschatten des Kalifats den US-Amerikanern und Europäern als Stabilitätsfaktor. Sie alle spekulieren auf das Vakuum, das mit dem Ende des „Islamischen Staates“ droht – und drängen aggressiv hinein.

Daʿesh, so das arabische Akronym für das Kalifat der Schlächter, ist keine Verschwörung, es ist die Kontinuation einer genozidalen Homogenisierung von der organisierten Annihilation der „Ungläubigen“ in Anatolien im Jahr 1915, dem Gründungsverbrechen türkischer Staatlichkeit, bis zur „al-Anfal“-Militärkampagne Saddam Husseins. Nicht zufällig gleicht sich die Geografie des Todes der Geografie der Vergangenheit. Nach Mosul, Aleppo sowie entlang des Khabur Ufers führten die Todesmärsche der anatolischen Armenier. Die vergessenen Verfolgten des Genozids von 1915, die Eziden, flüchteten zu Hunderten zu ihren Glaubensgeschwistern ins bergige Sinjar. Ihre Dörfer im türkischen Südosten sind verwaist oder islamisiert. Im Jahr 2014 dann flüchteten die Eziden zu Hunderttausenden aus dem Sinjar sowie die letzten verbliebenen Christen aus Mosul vor der Bestie Daʿesh, die auch das Khabur Ufer, wo hundert Jahre zuvor für nur zu viele die Todesmärsche endeten, nach Beute abstreifte.

Während Eziden aus dem deutschen Exil nach Sinjar reisten, um mit dem Gröbsten den ins Gebirge Geflüchteten beizustehen, ertrug Europa die genozidale Bedrohung mit Geduld. Das Naheliegende, die im Gebirge Ausharrenden durch Militär auszufliegen und den sich selbst Verteidigenden das Gröbste: eine leichte Infanterie zu überlassen, blieb aus. Noch ein knappes halbes Jahr später blieben tausende geflüchtete Eziden allein im Gebirge. Die Empathie war damit ausgereizt, die Grabinschrift der noch Lebenden zu verfassen. Mit dem kürzlich verliehenen Sakharov Prize for Freedom of Thought an die Überlebenden des Genozids Nadia Murad und Lamiya Aji Bashar feiert Europa als „Macht des Gewissens“ als erstes sich selbst, während ezidische Geflüchtete weiterhin im türkisch-griechischen Toten Meer sterben und die Überlebenden in griechischen Slums bedrängt werden. Die Türkei droht dagegen, nun wo Daʿesh hinausgedrängt ist, die nächste Aggression gegen Sinjar an. Die „Operation Euphrates Shield“ werde auch auf Sinjar ausgeweitet, so Recep Tayyip Erdoğan: „Wir können nicht zu lassen, dass Sinjar zu einem neuen Qandil wird“. Während die Türkei ihre Grenze als logistische Schneise der Genozideure offen hielt, brachen aus dem Qandil-Gebirge Guerillas nach Sinjar auf; viele der dem Genozid entkommenen Eziden, unter ihnen viele junge Frauen, werden von ihnen in die Selbstverteidigung eingeführt.

In diese Perfidie wird sich auch außerhalb der türkischen Staatspropaganda eingefühlt. Auf „gute Gründe“ des türkischen Militärs, Dörfer mit Artillerie zu terrorisieren, nachdem Daʿesh aus diesen hinausgedrängt worden ist, spekuliert Jürgen Hardt. „Wir stehen für Maß und Mitte“, so der Christdemokrat mit Abgeordnetenmandat, also für traditionelle Tugenden deutscher Beschwichtigung, und nicht für „Undifferenziertheit der Betrachtung“, die er der Opposition vorwirft. Die Charaktermasken der Politik wenden sich wie postmoderne Seminaristen in Differenzierung, um ganz selbstbewusst auf die Wahrheit zu verzichten, die objektiv die Wahrheit über die Verzichtenden ist: die Kumpanei gegenüber der türkischen und iranischen Katastrophenpolitik.

Dass sich Recep Tayyip, der reinkarnierte „Vater der Türken“, sich auch als mächtigster Warlord der syrischen Sunniten sieht, besteht kaum einen Zweifel. Über ein Gespräch mit Vladimir Putin, seinem russischen Äquivalent, sagte er, wir, also die türkischen Muslimbrüder, haben „unsere Freunde“ darin instruiert, die Jabhat al-Nusra (aka Jabhat Fatah al-Sham) zum Verlassen Aleppos zu bringen. Mit „unseren Freunden“ meint Recep Tayyip nicht die syrische al-Qaida selbst, wie man denken könnte, viel mehr die Staatsbediensteten an der Front, etwa des MİT, einer institutionalisierten Guerillaorganisation. Noch weigern sich die Jabhat Fatah al-Sham und selbst die nationaljihadistische Fatah Halab, bestehend aus türkischen Alliierten wie Faylaq al-Sham und Harakat Nour al-Din al-Zenki, Aleppo dem „Regime der Rafida“ gänzlich zu überlassen. Die Selbstverständlichkeit aber, mit der Recep Tayyip meint, er könne durch Instruktionen die syrische Front radikal verschieben, sagt viel aus über die türkische Flanke für die Jihadisierung Syriens; auch hier fungiert Recep Tayyip als Komplementär zum Iran, der mit der Hezbollah und ihren irakischen und afghanischen Derivaten (Ost-)Aleppo dem Atem abschnürt.

Die kurdischen Militanten zwangen die Genozideure des „Islamischen Staates“ in die Defensive, die US-Amerikaner honorierten ihre militärische Disziplin und machten sie als de-Facto-Armee Syrisch-Kurdistans zu ihren Protegés. Inzwischen bewegen sie sich auf Raqqa, der Kapitale des geschrumpften Kalifats, zu, unter Kommandantur einer Frau, die verspricht, die Frauen zu rächen, den Gewalt angetan worden ist. Als dann am 7. Juni 2015 in den türkischen Provinzen nordöstlich von Syrien bis zu über 90 Prozent der Menschen sich für die Halkların Demokratik Partisi mit ihrer Idee für eine föderale Türkei aussprachen, organisierte sich der nationalchauvinistische Hass parteiübergreifend. Graue und Grüne Wölfe jaulten als veritable Pogromistenrotte durch die Straßen: „Wir wollen keine Militäroperation, wir wollen Massaker“. Türkische Armee und paramilitärische Konterguerilla, wahrlich eine Parallelstruktur, machten aus Cizre, wo sich am 7. Juni noch 92 Prozent für die Halkların Demokratik Partisi aussprachen, Nusaybin (90, 4 %), Şırnak (noch 71,8 %) und anderen Distrikten im abtrünnigen Südosten eine einzige Ruine. Auf den Trümmern gehisst die türkische Flagge.

Ein Jahr später verdichtete sich die Staatsfront weiter. Die lang vorhergesehene Erhebung den Muslimbrüdern feindlicher Militärs – Traditionslaizisten sowie Angehörige aus dem konspirativen Tarikat Fethullah Gülens – scheiterte noch vor der auf Befehl des Führers hin und durch die Moscheen kommunizierten demokratischen Spontanität gegenüber Panzergefährten und Soldaten, die mehr um ihr eigenes Leben fürchteten als zu ahnen, wofür sie am späten Abend ausrückten. Misstrauen und Ablehnung unter den rivalisierenden Fraktionen im Militär hätten nicht größer sein können, waren es doch vor allem die Hörigen des exilierten Imams Fethullah Gülen in Justiz und Polizei, die – noch im Verein mit den Muslimbrüdern – zwischen 2008 und 2013 eine Hexenjagd gegen Traditionslaizisten und pensionierte Generäle als „Intriganten einer Parallelstruktur“ führten. Nach der Verfeindung zwischen Recep Tayyip und den Getreuen des exilierten Imams und dem Hinausdrängen letzterer aus den Apparaten amnestierte die Justiz die Ultranationalisten nach für nach. Die AK Parti Erdoğans machte die Rehabilitierten zur Absicherung gegenüber den Getreuen des abtrünnigen Imams. Doğu Perinçek, passionierter Genozidleugner, Freund Jürgen Elsässers und Gründer der ultranationalistischen Vaterlandspartei, die auf den Islam ganz in der Tradition Mustafa Kemals verächtlich herabblickt, ist einer von denen, die inzwischen eine „patriotische Front“ mit den „religiös Konservativen“ Erdoğans propagieren. Die Vatan Partisi ist weniger eine Partei als ein konspirativ-paranoider Zirkel unter ausgedienten Militärs wie Cem Gürdeniz, der ein föderales Nordsyrien für eine Intrige hin zu einem 2ten Israel hält. Dieses ultranationalistische Milieu mit einer Marotte für eurasische Ordnungsphantasien fungiert auch als geostrategisches Ticket zu Vladimir Putin und Bashar al-Assad. Der Russe Aleksandr Dugin, Vordenker der anti-universalistischen Kontrarevolution mit geistigen Anleihen bei Julius Evola, Alain de Benoist und Carl Schmitt, war jüngst zu Gast bei der Fraktionssitzung der AK Parti. Ministerpräsident von Erdoğans Gnaden, Binali Yıldırım, ließ sich mit ihm fotografieren.

Vor nicht langem marschierte die Jugend der Vaterlandspartei noch unter dem Ruf „Das syrische Volk ist seinem Staat treu ergeben“ hinter dem Porträt Bashar al-Assads und in nationalistischer Opposition zu Recep Tayyip. Inzwischen gilt Doğu Perinçek als Schattenminister, als politische Flanke des eurasischen Flügels im Offizierskorps. Doch auch diese Einheit wird nicht ewig sein. Das islamistische Milieu aus obskurantistischen Tarikats fürchtet die Ultranationalisten in der Konkurrenz um die Funktionsstellen im Staat und zweifelt an deren Loyalität. So sieht der frömmelnde Kolumnist Ahmet Taşgetiren in den Ulusalcılar, den ultranationalistischen Traditionslaizisten, bereits die nächste aufkommende Parallelstruktur.

Diese temporäre „patriotische Front“ mag der Grund dafür sein, dass die Muslimbrüder im Moment weitere antilaizistische Vorstöße als solche nicht erkannt wissen möchten. Die Forderung von Ismail Kahraman, Präsident der Nationalversammlung und Veteran der antilaizistischen Bewegung Millî Görüş, nach der völligen Entsäkularisierung der türkischen Verfassung – noch steht das Gebot der Trennung zwischen Politik und Religion als Rudiment Mustafa Kemals - scheint gestundet zu sein. Die Muslimbrüder überlassen die Islamisierung der Straßenrotte, den Schülern der religiösen Indoktrination in den Moscheen und Imam hatip Gymnasien. In Trabzon und anderswo werden seit Wochen Atatürk-Statuen beschmiert mit Schriftzügen wie „Ungläubiger“, „Götze“ oder „Freimaurer“. Recep Tayyip dagegen stichelt gegen Mustafa Kemal, in dem er als lebender „Vater der Türken“ ihn nationalistisch vereinnahmt und zugleich übertrifft. „Die Türkei ist größer als die Türkei. Wir können nicht auf 780.000 Quadratkilometer beschränkt sein“, drohte er am Todestag Mustafa Kemals, den er nunmehr als „Tag der Wiedergeburt“ und zur Ehrung der Märtyrer des 15. Juli begehen wird. Wochen zuvor erboste sich Recep Tayyip über die Abtretung griechischer Ägäisinseln, „mit unseren Moscheen in Rufweite“, im Jahr der Republikgründung 1923 und das Versagen von Ismet Inönü, einem engen Weggefährten Mustafa Kemals.

Am Tag der Verhaftungen der beiden Co-Vorsitzenden der oppositionellen Halkların Demokratik Partisi, Figen Yüksekdağ und Selahattin Demirtaş, traf sich Recep Tayyip mit Devlet Bahçeli, Vorsitzender der völkisch-panturkistischen Milliyetçi Hareket Partisi, zu einem Gespräch. Der Rudelführer der Grauen Wölfe mit dem programmatischen Vornamen „Staat“ köderte Recep Tayyip mit der Befürwortung seiner Partei für eine Verfassungsänderung hin zu einem Präsidialregime, unter der Bedingung, dass Abdullah Öcalan hingerichtet werde. Ihre Einigkeit ist einzig der Tod.

Nach über einem Jahr von gröbster Rohheit gegenüber der einzigen Friedenspartei (suizidalen Massakern, pogromartigen Anrottungen vor Parteihäusern, systematischen Inhaftierungen kommunaler Amtsträger, der Zerschlagung der Gemeinderäte sowie Zwangsverwaltung ihrer Kommunen) – und natürlich: habitueller europäischer Besorgtheit – kommt die de-Facto-Zerschlagung der HDP in diesen Tagen zu ihrem Ende. Die beiden Parteivorsitzenden Figen Yüksekdağ und Selahattin Demirtaş, der Fraktionsvorsitzende İdris Baluken sowie weitere Abgeordnete sind inhaftiert. Wie die Parteivorsitzende der verschwisterten Kommunalpartei Demokratik Bölgeler Partisi, Sebahat Tuncel, befinden sie sich in der berüchtigten F-Typ-Isolation. „Der Staat der Türkischen Republik hat sie wie Ratten, die aus der Kanalisation gekrochen kommen, am Genick gepackt“, resümiert Nihat Zeybekçi, Muslimbruder in Ministerwürden, die Verhaftungen. Während Hüseyin Kocabıyık, Muslimbruder mit Abgeordnetenmandat, mit Lynchmord droht: Sollten ranghohe Politiker der AK Parti ein Haar gekrümmt werden, werde die Nation sich an den Inhaftierten rächen und diese töten. „Dies wird im Volk diskutiert“, so Kocabıyık. Die Unterwerfungsaufforderungen, die die Konterguerilla an den zerschossenen Fassaden von Cizre und anderswo im Südosten hinterlassen hat, adressiert der Rudelführer der Grauen Wölfe, Devlet Bahçeli, direkt an die inhaftierten Abgeordneten: „Entweder sie beugen ihre Köpfe oder ihre Köpfe werden zermalmt“.

Wenige Tage zuvor verhaftete das Regime jene, deren Berufsethos nicht die unermüdliche Produktion von Gerüchten und Rachegelüsten ist. Die traditionslaizistische Gazete Cumhuriyet wurde um einige der schärfsten Kritiker der Muslimbrüder gebracht; Herausgeber und Redakteure inhaftiert, ihr prominentester Kolumnist Can Dündar zuvor ins Exil gezwungen. Die republikanische Cumhuriyet brach in den vergangenen Jahren nach und nach mit den nationalistischen Dogmen, was sie so bedrohlich für die Staatsfront macht. Am 15. April 2015, dem hundertsten Jahrestag des Genozids, titelte sie auf Armenisch „Nie wieder“. Vor der Cumhuriyet traf es das antinationalistische İMC TV sowie die kurdische Özgür Gündem, die in den dunkelsten Tagen der Konterguerilla in den 1990er Jahren nahezu wöchentlich um ermordete Freunde trauern musste.

In der Anklageschrift gegen die Freunde von Özgür Gündem wird erschwerte lebenslängliche Haft für „Untergrabung der Einheit des Staates und seiner territorialen Integrität“ und „Propaganda für eine terroristische Organisation“ gefordert. Unter ihnen ist die inhaftierte Literatin Aslı Erdoğan, die Philologin Necmiye Alpay, die feministische Publizistin Filiz Koçali sowie der Verlagsgründer Ragıp Zarakolu, der ab dem Jahr 1971 wieder und wieder für seine Publikationen, etwa über den Genozid an den Armeniern, vor Gericht stand. Einige der Angeklagten hatten aus Solidarität mit der repressiv verfolgten Özgür Gündem symbolisch für einen Tag die Redaktion übernommen.

Die Übergebliebenen von Özgür Gündem halfen sich noch der Hoffnungslosigkeit trotzend mit improvisierten Redaktionssitzungen auf der Straße, während Polizisten ihren Redaktionssitz versiegelten. Inzwischen ist ihre Zuversicht verschwunden im Schweigen der Anderen. Bei der Razzia gegen Özgür Gündem nahm die Polizei auch Gülfem Karataş, Reporterin für İMC TV, mit. Während des Verhörs drohten Polizisten ihr an, sie zu vergewaltigen, und beschimpften sie als Brut von Armeniern und Juden. Im staatstragenden Boulevard verhöhnte sie ein Kolumnist, dass Polizisten blind sein müssten, um sich an ihr überhaupt vergehen zu können. Kürzlich kursierte eine Sequenz wie aus einem Snuff-Film des „Islamischen Staates“, irgendwo im Südosten richten türkische Soldaten vor sich kniende Guerillakämpferinnen hin, eine von ihnen stoßen sie zuvor einem Felsvorsprung hinab. Daraus spricht nicht allein der Hass auf Frauen, soweit sie sich davon befreit haben, einzig der Reproduktion des männlichen wie nationalen Narzissmus zu dienen. Es spricht daraus vor allem auch die aggressive Exorzierung jedes als „weiblich“ und „schwächlich“ verstandenen Mitgefühls. In der Demokratie der Märtyrer, die die Muslimbrüder mit Grünen und Grauen Wölfen begründen, ist die narzisstische Kränkung, dass männlicher wie nationaler Größenwahn und Wirklichkeit sich nicht decken, verstaatlicht; ihnen ist die Erniedrigung und Verächtlichmachung der Menschen allein Grund, die Erniedrigung und Verächtlichmachung der Menschen zu perfektionieren, also Rache zu nehmen an dem Leben, der sich selbst befreienden Frau und allem, was noch irgendwie an die Möglichkeit von Glück und Versöhnung erinnert.

Redaktionssitzung von Özgür Gündem (Fotografie: Hayri Demir)

Die gebetsmühlenartige Besorgtheit des demokratischen Europas, das jedes Jahr ein beinahe Abdriften der Türkei in eine Diktatur befürchtet, ist dann doch einzig die Legitimierung dafür, die Kumpanei nicht zu beenden. Man müsse im Gespräch bleiben, streichelnd, tadeln, mit „Maß und Mitte“ eben. Bei dem „kritischen Dialog“ der Deutschen mit dem Iran nahmen sich diese ausschließlich jenen Oppositionellen an, die eine Funktion im „Kulturdialog“, der ideologischen Flanke deutscher Beschwichtigungspolitik, fanden. Nichts spricht dafür, dass es bei der Türkei der Muslimbrüder anders sein wird.

Der organisierte Anschlag auf die Residuen von Aufklärung und Mündigkeit ist globalisiert, schwerlich einen Staat auszumachen, wo sich nicht zu einem solchen verschworen wird. Wenn aber wo die versprengten individuellen und kollektiven Widerstände mit gröbstem Desinteresse verloren gegeben und die Menschen allein gelassen werden, dann dort, wo die Anschläge am verheerendsten sind. Einer dieser Menschen ist Levent Pişkin, Mitorganisator des Istanbuler Gay Pride und einer der Rechtsbeistände von Selahattin Demirtaş. Nach einem Besuch bei seinem Mandanten und Parteifreund nahmen ihn die Schergen der Staatsfront vorübergehend in Polizeihaft. Bis zu seiner Freilassung wusste man einzig aus dem türkischen Boulevard, wofür er beschuldigt wird: Levent hätte von Demirtaş eine handschriftliche Nachricht zu „Propagandazwecken“ erbeten; Adressat dieser „terroristischen Propaganda“ sei die europäische Öffentlichkeit. Levent ist auch assoziiert im Özgürlükçü Hukukçular Derneği, einer Vereinigung libertärer Juristen, dessen Sitze kürzlich von Polizisten versiegelt worden sind. Der Atem wird ihnen abgeschnürt.

Dienstag, 4. Oktober 2016

Solidarität mit İMC TV


Polizisten drangen während des Tages in den İstanbuler Hauptsitz von İMC TV ein, wo bis zuletzt die Oppositionellen um Eyüp Burç und einige Freunde ausharrten. In der Hoffnung, dass außerhalb der Türkei nicht auch diese Aggression der türkischen Staatsfront gegenüber der säkularen und antinationalistischen Opposition achselzuckend hingenommen wird, führte ich folgendes Gespräch mit Rosa Burç.


Wenige Minuten vor Versiegelung des Hauptsitzes durch die Polizei

Montag, 12. September 2016

Die Demokratie der Märtyrer


Die Erweiterung der syrischen Katastrophe um den türkischen Südosten begann spätestens in Suruç, dem türkischen Grenzstädtchen gegenüber Kobanê. Hier riss am 20. Juli 2015 eine suizidale Bestie jene mit in den Tod, die die Menschen hinter der Grenze nicht den Ruinen oder dem türkisch-griechischen Toten Meer überlassen wollten. Nach dem Massaker an den jungen Oppositionellen beschworen die türkischen Muslimbrüder, dass kein Unterschied zwischen Daʿish, so das arabische Akronym des „Islamischen Staates“, und den Ermordeten existiert. In Ankara, wo der suizidale Tod als nächstes zuschlug, schoss die Polizei Reizgasgranaten in die Überlebenden. Die Toten, Freunde der oppositionellen Halkların Demokratik Partisi, waren längst als Abtrünnige des Vaterlandes ausgemacht, die Staatsfront aus Grünen und Grauen Wölfen stand. Zwischen den Massakern in Suruç und Ankara folgte eine Lynchkampagne in nahezu allen türkischen Provinzen. Unter nationalistischem Gebrüll gingen Provinzbüros der Halkların Demokratik Partisi in Brand auf.

Im Jahr danach: Die Beerdigung von Kumru İlter und Ahmet Toraman, beide Tote des jüngsten suizidalen Massakers im türkischen Gaziantep in der Nacht zum 21. August, wird attackiert unter dem Gebrüll „Allahu ekber“. Die Provokateure – manche von ihnen tragen das Emblem jener von der AK Parti gehaltenen Kommune in Gaziantep, in der das Massaker trotz allen konkreten Vorwarnungen geschehen konnte – wollen den Trauernden die türkische Flagge aufzwingen. Doch die Hinterbliebenen drängen die Aggressoren ab, sie rufen ihnen entgegen: „Kurdistan wird das Grab des IS sein“ und „Mörder IS, Mittäter AKP“. Nach dem suizidalen Massaker in Gaziantep beschwört die türkische Staatsfront, inzwischen erweitert um die laizistischen Nationalisten Mustafa Kemals, die Identität von Daʿish, FETÖ und den Abtrünnigen jenseits der türkischen Grenze, in Syrisch-Kurdistan. Wenig später marschiert türkisches Militär in Syrien ein, verbrüdert mit jihadistischen Warlords, die unverhohlen drohen, Kobanê als ihr „Ayn al-Islam“ einzunehmen – also ganz so wie Daʿish in Abgrenzung zum arabisierten Namen der Stadt „Ayn al-Arab“, wie sie noch unter Bashar al-Assad hieß.

Der Einmarsch nach Cerablus ist mit Zekai Aksakallı einem der standhaften Beschützer der Demokratie der Märtyrer aufgetragen, der am Abend des 15. Juli, als abtrünnige Militärs sich gegen die Muslimbrüder erhoben, die standrechtliche Hinrichtung eines Brigadegenerals anordnete. Während das Auswärtige Amt in der deutschen Tradition der Beschwichtigung von der türkischen Sorge „über die Präsenz von IS“ entlang der türkisch-syrischen Grenze faselt, präsentiert die mit den syrischen Muslimbrüdern affiliierte Faylaq al-Sham, eine der islamistischen Koalitionäre der türkischen Militärs, die Beute: jene Säkularen, die noch kürzlich Manbij von Daʿish befreit haben.

Nicht, dass es zuvor Hoffnung gegeben hätte in ein Militär, das unter „Frieden im Land“ alles andere als ein Ende der Staatsfront im Südosten versteht, wo es mit einer Parallelstruktur aus Grauen und Grünen Wölfen wie den berüchtigten Esedullah, den „Löwen Allahs“, aus Cizre, Nusaybin und Sur-Diyarbakır eine einzige Ruine gemacht hat und wo auf den zerschossenen Fassade die Morddrohung prangt: „Es gibt nur einen Gott und seine Armee ist die türkische“. In Ägypten traf das Militär während der Entmachtung der Muslimbrüder um Muhammed Mursi noch auf die salafistische al-Nour Partei als Kollaborateurin. In der Türkei dagegen sind die religionsfaschistischen Rackets geeint im Hass auf ein Militär, das der Islamisierung viel zu lange Grenzen aufzwang – und diese ab dem Jahr 1980 selbst aber nach eigenem Ermessen ausweitete.

Was das Europa der Kumpanei und Beschwichtigung zunächst für einen „Sieg der Stabilität und der demokratischen Institutionen“ hielt, ist in aller Konsequenz die Verdichtung einer noch viel bedrohlicheren Staatsfront: die Tilgung der letzten etwaigen Abtrünnigen in Militär und Justiz und die freie Assoziation der Freiheitsfeinde. Dabei war und ist die antilaizistische Kontrarevolution alles andere als eine geeinte Bewegung. Ende der 1970er Jahre radikalisierte sich das Milieu der Millî Görüş, die ein tausendjähriges Millet, die Nation geboren aus einem Glauben, beschwor. Inspiriert von der „Islamischen Revolution“ im Iran, wurde ihre Strategie der stillen Infiltration des Staatsapparats unter Umgehung einer frontalen Konfrontation von einigen als Verrat am Islam abgetan. Im türkischen Osten gründete sich unter sunnitischen Bewunderern des Imams Khomeini die Hizbullah, die unkeusche Frauen mit Säure verätzte und Abtrünnige zu Hunderten ermordete. Sie diente sich dem Staat als Konterguerilla an, der sie gnadenlos zerschlug, als sie darüber hinausging. Der Sohn ihres Mitbegründers Hacı Bayancuk avancierte später zum Emir des „Islamischen Staates“ in der Türkei.

Von der militanten Jugend der Millî Görüş, zu der auch der junge Recep Tayyip Erdoğan gehörte, spaltete sich zu Beginn der 1980er Jahre die „Front der Vorkämpfer für den Islamischen Großen Osten“, İBDA-C, ab. Sie beansprucht für sich – neben al-Qaida –, die Massaker vor den Synagogen Istanbuls im Jahr 2003 verbracht zu haben. Auch sie zerschlug der noch nicht islamisierte Staatsapparat. Die İBDA-C beruft sich wie Recep Tayyip auf den Vordenker des „Großen Islamischen Ostens“, Necip Fazıl Kısakürek. Ihr Gründervater Salih Mirzabeyoğlu – das Regime der AK Parti entließ ihn aus lebenslänglicher Haft – widmete ihm die zweibändige Schrift Kavgam - Necip Fazıl, „Mein Kampf – Necip Fazıl“.

Eine der Fronten des „Islamischen Großen Ostens“ ist die syrische Hölle. Militante der Müslüman Anadolu Gençliği, der legalen Nachfolgeorganisation der İBDA-C, ergänzen die Reihen der Brigaden, in denen sich panislamische mit panturkistischer Ideologie vereint. Auch Grüne Wölfe aus der „Partei der Großen Einheit“ kommen im bergigen Norden von Latakia ihren turkmenischen Brüdern bei. In der Türkei drohten beide unlängst, den Istanbul Pride der „Perversen“ zu verhindern, wenn der Staat nicht diese Ehrlosigkeit untersage. Der Staat folgte der Drohung und hetzte diejenigen, die nicht dem Verbot nachkamen.

Die berüchtigste unter den panturkistischen Brigaden in Syrien trägt stolz den Namen jenes Sultans, dem die Verehrung aller türkischen Neo-Osmanen gilt: Abdülhamit, mit dem sich der islamistische Opfermythos in seiner türkischen Variante begründet. Im Jahr 1909 zerschlugen jungtürkische Militärs eine Erhebung gegen das konstitutionelle Regime und zwangen Abdülhamit, dem die Revoltierenden als absolutem Herrscher die Treue schworen, ins Exilarrest. Die osmanische Topçu-Kaserne, von der die sultanstreuen Soldaten für Şeriat und Şah aufbrachen, überstand diese Tage nur schwer beschädigt. Sie wird schließlich im Jahr 1940 ganz abgerissen. Die Türkische Republik gewährt auf einer Teilfläche den Menschen ein wenig Muße inmitten des Betons: den Gezi Park.

Wie die AK Parti die größeren und kleineren Rackets der türkisch-islamischen Synthese mehr und mehr verüberflüssigt, indem sie ihr Milieu in sich aufnimmt und folglich auch Neid und Verdächtigungen unter den Unterlegenen in der Konkurrenz provoziert, rehabilitiert sie jene, die nie darüber täuschten, eine Islamische Republik terroristisch zu erzwingen. Gegen das Militär als Wiedergänger der Feinde des Sultans Abdülhamit sind sie sich alle eins. Im türkischen Osten führte die Hür Dava Partisi, die legale Nachfolgeorganisation der Hizbullah, die Solidaritätsmärsche mit den Muslimbrüdern an. Ihr folgten die Saadet Partisi, die für sich beansprucht, die Lehre der Millî Görüş am reinsten bewahrt zu haben, sowie die İHH, der „humanitäre Flügel“ des syrischen Jihads, die sich zuvor noch erboste über die jüngste Moderarität Erdoğans gegenüber Israel. Auf dem Taksim Meydanı, einst Symbol der Überlegenheit der Laizisten, marschierten die Gläubigen des İsmail Ağa Cemaat auf, ein fundamentalistisches Tarikat, das aus dem Mahalle Çarşamba, woraus ihre Hörigen anderntags nicht herauskommen, ein kleines Talibanistan in Istanbul gemacht hat. Militante der İBDA-C, die ungehindert zwischen Istanbul und Idlib reisen, posierten - noch nicht ganz in Battalionsstärke - vor Panzergefährten. Und alles andere als zufällig beschwor Recep Tayyip in den Tagen demokratischer Spontanität, die osmanische Topçu-Kaserne am Taksim Meydanı zu rekonstruieren.

Bei allen Unterschieden, wo es entscheidend ist, nähert sich die türkische Katastrophenpolitik – auch in den geopolitischen Konstellationen – der iranischen Katastrophe mehr und mehr an. In der Demokratie der Märtyrer, die die Muslimbrüder begründen, ist das türkische Militär vom Garanten des formal-laizistischen Charakters der Republik heruntergebracht auf eine bloße Funktion, es wird mehr und mehr ausgehöhlt durch einen militarisierten Polizeiapparat, der zugleich als ideologische Agentur fungiert, sowie durch eine wirkliche Parallelstruktur aus nationalchauvinistischen Männerrotten wie den Osmanlı Ocakları, der türkischen Variante der berüchtigten Basij im khomeinistischen Iran. Ein enger Vertrauter und persönlicher Berater Erdoğans, der pensionierte General Adnan Tanrıverdi, scharrt heute in seinem Unternehmen „Sadat International Defense Consulting“ Soldaten um sich, bei denen Ende der 1990er Jahre noch auf den Verdacht, den laizistischen Charakter der Republik zu beargwöhnen, konsequent die Exkommunikation aus der türkischen Armee folgte. Seine Unternehmensphilosophie bestehe nach Eigenaussage darin, den islamischen Staaten – unter türkischer Führung, versteht sich – darin behilflich zu sein, die Abhängigkeit von den „imperialistischen Kreuzfahrern“ zu beenden. Zuständig für politische Analyse ist bei Sadat ein Herr Abdurrahman Dilipak, Agitator der fundamentalistischen Gazete Yeni Akit. „Sadat“ ist die Pluralform von Seyyid, dem Ehrentitel für diejenigen, die als Nachkommen Mohammeds und seines Enkels Husain gelten. Im Südosten ist Sadat, dem Aktienrecht unterliegend, in die Konterguerilla integriert, ihr wird auch militärisches Training von Kadern der Hizbullah und Militanten aus der syrischen Hölle nachgesagt. Die Oppositionelle Sebahat Tuncel von der Halkların Demokratik Partisi berichtete, dass im Distrikt Lice ihr Personal einzig allein durch einen Offizier der offiziellen Armee an der extra-legalen Hinrichtung von „Kollaborateuren der Kreuzfahrer“ abgehalten wurde - aber auch einzig nur aus dem Grund, da der Offizier bereits zuvor die Verhaftung der Verdächtigten an den nächst höheren Rang gemeldet hatte.

Nicht, dass es noch Hoffnung gegeben hätte in ein anachronistisches Regime in der Tradition Mustafa Kemals, das mit der Erweckungsbewegung der türkisch-islamischen Synthese eines teilt: dass das konstitutive Moment der türkischen Nation der Genozid an den Anderen ist - und dessen Leugnung einhergeht mit Selbstviktimisierung, pathischer Projektion und Paranoia. Dass die Muslimbrüder nicht die Traditionslaizisten der Intrige beschuldigen, vielmehr ein rivalisierendes antilaizistisches Tarikat, spricht dafür, dass sie die Racketisierung des islamisierten Staatsapparats mehr fürchten als die „Soldaten Mustafa Kemals“. Nicht ganz ohne Grund. Fethullah Gülen, der exilierte Imam aus dem ostanatolischen Erzurum, entkroch als Agitator und Imam demselben Milieu der türkisch-islamischen Synthese wie seine heutigen Denunzianten. Wie die Vordenker der Millî Görüş verfolgte er eine schleichende Infiltration des Staats. Der sanfte Coups des Militärs gegen den Muslimbruder Necmettin Erbakan und die Kriminalisierung seiner Parteien – es langte noch ein demonstrativer Korso des Militärs durch Sincan, wo zuvor Parteigänger Erbakans eine Islamische Republik gefordert hatten, sowie eine noch nicht islamisierte Justiz – bedrohte auch Fethullah Gülen, der im März 1999 sein Exil antrat. Anders als Gülen verließ Erbakans Schüler Recep Tayyip sein Vaterland nicht, auch wenn er im Jahr 1998 selbst noch vor Gericht stand – für Worte, die heute in jeder seiner staatsmännischen Ansprachen vorkommen können: „Die Moscheen sind unsere Kasernen, die Minarette unsere Bajonette, die Kuppeln unsere Helme und die Gläubigen unsere Soldaten“. Als zwingende Konsequenz der zermürbenden Konflikte mit den Militärs gründete Recep Tayyip mit Weggefährten wie Abdullah Gül und Bülent Arınç im Jahr 2001 die AK Parti als Reformpartei, mit der das Stigma der antilaizistischen Provokationen und frontalen Konfrontationen mit dem Traditionslaizisten verdeckt werden sollte.

Über die AK Parti gelangten auch weitere Hörige des exilierten Imams Fethullah in den Staatsapparat, vor allem in Justiz und Polizei, von wo aus sie eine Hexenjagd gegen Traditionslaizisten und pensionierte Generäle als vermeintliche Intriganten einer Parallelstruktur im Staat begannen. Nach der Verfeindung zwischen Recep Tayyip und den Getreuen des exilierten Imams und dem Hinausdrängen letzterer aus den Apparaten entließ die Justiz die verdächtigten Verschwörer nach für nach; manch einer von ihnen schwor danach dem Regime die Treue, wie etwa Doğu Perinçek von der laizistisch-ultranationalistischen Vaterlandspartei. Zugleich denunzierte Recep Tayyip nun seine verbliebenen traditionslaizistischen Kritiker aus dem Establishment als Intriganten einer Parallelstruktur, als Mitverschwörer des exilierten Imams, wie etwa die mächtige Dogan Media Group. Heute ist die zu ihr gehörige Hürriyet in die Staatsfront integriert, über CNN Türk rief Recep Tayyip am Abend des 15. Juli zur demokratischen Spontanität auf, während ihren Korrespondenten in Istanbul und Ankara drohte, von der Straßenrotte gelyncht zu werden.

Wer mit wem sich gegen wen verschwört, ist aber auch nicht entscheidend. Wesentlich an der türkischen Katastrophe sind die Mechanismen, in denen die nationale Einheit reproduziert wird und die Traditionslaizisten die Opposition verraten. Die ehrwürdige Cumhuriyet Halk Partisi, die in den westtürkischen Provinzen entlang der Ägäis mit der Großstadt İzmir den Religiösen noch überlegen ist, desavouiert sich selbst als Opposition. Was vom Meeting der Cumhuriyet Halk Partisi am Taksim Meydanı am 24. Juli, das in Anzahl der Siegestrunkenen jenes der Muslimbrüder noch übertraf, und ihrer Teilnahme an dem faschistischen Spektakel der Staatsfront auf dem Yenikapı Meydanı bleibt, ist die geteilte Mystifizierung des 15. Juli als demokratische Erhebung der Volksmassen. Die historischen Partei Mustafa Kemals erinnert ein wenig an jene iranischen Säkularen, die aus der „Islamischen Revolution“ zwanghaft eine Volkssouveränität herausschälten, als die Verfolgung aller Verschiedenheit längst auch sie bedrohte. Der zentrale Ruf ihrer Parteigänger, „Die Türkei ist laizistisch und bleibt laizistisch“, wird so zur Täuschung darüber, dass die Türkei einzig noch in Residuen laizistisch ist und auch diese akut bedroht sind. Die demokratische Spontanität, auf Befehl des Führers hin und kommuniziert durch die Moscheen, ist nicht zu abstrahieren von der gnadenlosen Rache, die auf sie folgte. Die Traditionslaizisten müssten es eigentlich wissen: In den Folgetagen des 15. Juli wurde ihr jüdischer Parteigenosse Cemil Candaş in Istanbul-Şişli ermordet, der Mörder ist weiterhin flüchtig. Die İBDA-C, so ganz nebenbei, hatte im Jahr 1994 nach der Ermordung der Archäologin Yasemin Cebenoyanin explizit angedroht, weitere jüdische Intellektuelle zu ermorden.

Der Faszination von Menschenmassen kann sich auch der ein oder andere deutsche Korrespondent in der Türkei nicht gänzlich entziehen. Und täuscht sich und andere über den Charakter der demokratischen Spontanität. Die Devrimci İşçi Partisi, weniger eine Partei als ein Intellektuellenzirkel in Tradition Lew Trozkis, dagegen benennt die Anrottungen auf den Straßen zutreffend als Schulterschluss zwischen militarisiertem Polizeiapparat und ideologischen Squadristen, die vielmehr den italienischen Schwarzhemden ähneln. Die Drohung mit der Rotte integriert nunmehr alle, denen das Phantasma vom ungeteilten Vaterland über den eigenen Verstand geht. So brachte der traditionslaizistisch-ultranationalistische Boulevard Sözcü jüngst das Gerücht zu zirkulieren, dass abtrünnige Generäle und Offiziere zur PKK desertiert seien. Die zuvor noch als oppositionell geltende Gazette schmeichelt auch der jüngsten Männerliaison zwischen Recep Tayyip Erdoğan und Vladimir Putin und enttarnt Europäer und US-Amerikaner hinter den Abtrünnigen im Südosten.

Die Katastrophenpolitik liegt also nicht darin, dass Recep Tayyip die „Volkssouveränität“ als wesentliche demokratische Institution zerschlüge und sich als absoluter Monarch erhöbe. Die Katastrophe liegt in der spezifischen Reproduktion des Nationalen, die durch die zunehmende Jihadisierung des türkischen Wahns noch weiter eskaliert. „Sie sind Juden geworden. Sie sind Armenier geworden. Sie sind Plünderer geworden. Sie waren nie Kinder des Vaterlandes“, war eine der favorisierten Denunziationen der Staatsloyalen während der Proteste um den Gezi Park. Auch heute enttarnt die paramilitärische Männerrotte Osmanlı Ocakları, die ideologische Präsidentengarde, Fethullah Gülen als „Armenier“, während ihm anderswo eine „jüdische Mutter“ und ein „armenischer Vater“ nachgesagt werden.

Die Aufmärsche ritualisieren das Aufgehen des einzelnen Leibes in der Nation, die Identifikation mit der Kollektivbestie. Was demonstriert wird, ist Hörigkeit und Verachtung für das Leben. Die Gesänge, „Sage es und wir töten, sage es und wir sterben“, mit denen das Brüllvieh seinen Übervater in der Revolutionsnacht empfing, sprechen für einen fundamentaleren militaristischen Coup: die Kasernierung der Mündigkeit und den Märtyrertod als Funktion des islamisierten Citoyens – oder eben, wie Recep Tayyip sagte, die „Gläubigen als unsere Soldaten“. Die „Partei der Großen Einheit“, ein paramilitärischer Rudel Grüner Wölfe, fordert unterdessen auf großflächigen Plakatwänden die Hinrichtung der „verräterischen Hunde“, während Kadir Topbaş, der Molochschulze Istanbuls, die hinzurichtenden Abtrünnigen auf einem „Gräberfeld der Vaterlandsverräter" zu beerdigen vorhat: „Die, die vorbeigehen, sollen sie verfluchen. Jeder, der dort hingeht, soll sie verfluchen“. In den Strafphantasien kommt der faschistische Souverän ganz zu sich. „Wir werden sie so brutal bestrafen, dass sie flehen werden: 'Lasst uns sterben, damit wir erlöst werden.' Wir werden sie zwingen, uns anzuflehen“, füttert Nihat Zeybekçi, Muslimbruder in Ministerwürden, die vergeltungshungrige Rotte an.

Es dauert nunmehr ein ganzes Jahr an: das Schänden von Leichen, das demonstrative Hissen der türkischen Flagge auf Ruinen, die Selbstporträts Siegestrunkener vor zertrümmertem Mobiliar, die Unterwerfungsaufforderungen an den Fassaden. Die Militäraktionen im Südosten werden durchgeführt als Reconquista, als Demütigung und Rache. Ideologie und Militanz der Grauen Wölfe, die über die Konterguerilla eine reale Parallelstruktur im Staat ausmachen, sind wirkmächtiger als je zuvor und doch schrumpft ihre Mutterpartei, die Milliyetçi Hareket Partisi, dahin. Der Muslimbruder Recep Tayyip hat sich als der authentischere Rudelführer im Staatsracket behauptet als der uncharismatische Parteifunktionär Devlet Bahçeli, der bei dem Istanbuler Spektakel für „ Demokratie und Märtyrer“ wenigstens noch als Adjutant des „Oberkommandierenden“ Recep Tayyip auftreten und der Einheitsideologie das Element „Blut und Boden“ hinzufügen durfte: „Die Erde wird erst durch das Blut der Märtyrer zum Vaterland“. Die Grauen Wölfe haben ihren eigenen Opfermythos gegenüber den höheren Militärs. Das Regime des Generals Kenan Evren ging im Jahr 1980 gegen sie ähnlich gnadenlos vor wie gegen ihre kommunistischen Todfeinde. Die militanten Antikommunisten fühlten sie um den Ruhm für ihren Dienst am Staat betrogen.

Die Muslimbrüder wollten vom ersten Tag an den Staat erobern, darüber konnte auch der europäische Fetisch von der Stabilität nicht täuschen. Nicht aber, dass es so kommen musste und auch nicht, dass es unabänderlich wäre. Doch die jungen Freundinnen und Freunde, die sich Moralprediger vom Leib halten, die tagtäglich gegen das Abschnüren des eigenen Atems ankämpfen, sind wahrlich – und dass vom ersten Tag an – allein gelassen. Diyarbakır, Suruç, Ankara – der „Islamische Staat“ massakrierte Hunderte aus der säkularen Opposition und doch blieb einzig bei einem Räuspern. Noch unverhohlener trat diese Empathielosigkeit zu Tage, als eine Staatsfront aus Grünen und Grauen Wölfen jene südöstlichen Distrikte, in denen in der jüngeren Vergangenheit der Zugriff der Nationalen und Frömmler wenn auch nicht gebrochen aber doch abgeschwächt werden konnte, der syrischen Hölle eingemeindet hat. Es dauert nunmehr ein ganzes Jahr an, dass Hunderte von staatskritischen Menschen, unter denen sich so einer mancher für die Soziale Ökologie eines Murray Bookchin oder die revolutionäre Liberalität eines Oskar Wilde interessiert wie sich die Jugend in Dinslaken-Lohberg oder Frankfurt-Sossenheim für al-Qaida Merchandising, zum Schweigen gebracht werden. Zehra Doğan, Vildan Atmaca, Şermin Soydan, Hurşit Külter sind Namen nur einiger - zwangsexiliert, inhaftiert, „verschwunden“. Spätestens da begann der eigentliche Verrat. Im Diyarbakır, wo es im Zentrum noch ein Leichtes ist, die jüdische Philosophin Ágnes Heller oder die Literatur der Kritischen Theorie auf Türkisch zu bekommen, werden es wieder die Hizbullah und andere Feinde des Denkens sein, die sich dieser Atmosphäre der Angst und Verfolgung annehmen.

Das Unglück, sich in einer Masse von Konkurrenten vorzufinden, überträgt die Demokratie der Märtyrer, in nationalen Wahn. In der Identifikation mit dem Reis-i Cumhur, dem Führer Tayyip Recep, eignen sich jene, die nichts haben, die grobe Gewalt der Masse an. Das zentrale Instrument der Muslimbrüder ist das Kitzeln der narzisstischen Kränkung, dass Größenwahn und Wirklichkeit sich nicht decken, zur nationalen Psychose. Als ein Produkt aus der Konkursmasse der osmanischen Rumpfmonarchie konnte die Türkische Republik nie konsequent mit den Mythen und Gerüchten brechen, die um das erzwungene Ende ihrer imperialen Geltung rankten. Die Paranoia von der Teilung des Vaterlandes ist das konstitutive Moment türkischer Ideologie und sie entspricht dem Zwang zur nationalen Homogenität in Ansehung der Krisenhaftigkeit der eigenen Staatlichkeit.

Das Ausagieren am Objekt, das Erniedrigen und Bestrafen der Volksverräter, bleibt dabei, mit Ausnahmen wie den Lynchmorden an abtrünnigen Soldaten, verstaatlicht. Dafür, dass dies alles andere als garantiert ist, stehen die Tage demokratischer Spontanität: In Istanbul marschierte das Brüllvieh in das alevitische Gazi Mahallesi, wo es auf Barrikaden und eine entschlossene Jugend traf. Im ostanatolischen Malatya erhielt die Lynchrotte, aufgehetzt in der Moschee, den Marschbefehl, sich in das alevitische Paşaköşkü Mahallesi aufzumachen, auch hier hielt man die Verfolger auf Distanz. Bedrängt werden die Aleviten noch von ganz anderen. Nach der Serie suizidaler Massaker des „Islamischen Staates“ im vergangenen Jahr gegen Oppositionelle und den hinausgezögerten Zugriffen des Staatsapparats auf dessen Schläferzellen wurden auf dem Laptop eines seiner Logistiker, Yunus Durmaz, die Namen und Adressen jener gefunden, die Daʻish in der Türkei zur Annihilation ausersehen hat: allen anderen voran die alevitischen Gemeinden im hinteren Anatolien, also dort, wo auch der Nebenmann mit Pogrom droht – sowie explizit Vermählungsfeiern kurdischer Familien in Gaziantep.

Die „Strategie des Islamischen Staates“ nun darin auszumachen, die Türkei zu spalten, ignoriert das Offensichtlichste: die Massaker in Diyarbakır, Suruç und Ankara betrafen nicht nur ausschließlich Oppositionelle, die suizidalen Bestien reisten auch zuvor ungehindert von den Staatsapparaten nach Syrien ein und aus und etablierten in der anatolischen Provinz eigene Rekrutierungsbüros. Die Familien der Mörder rannten gegen die Ignoranz des Staates an, sie denunzierten in aller Konsequenz ihre abtrünnigen Söhne bei der Polizei, doch der Staat schien nicht daran interessiert zu sein, das jihadistische Moloch zu stopfen.

Noch in den ersten Tagen der Revolte gegen die Despotie Bashar al-Assads ist die Furcht vor einer kurdischen Eigenstaatlichkeit ein entscheidender Faktor türkischer Syrien-Politik. So zögerten die türkischen Muslimbrüder zunächst auch, sich gegen Bashar al-Assad zu wenden: Schien doch der Zugriff des Regimes auf Syrisch-Kurdistan am schwächsten und drohte in einem instabilen Syrien ein ähnliches Szenario wie im Nordirak. Doch der Ausblick, dass mit dem Ende Bashar al-Assads ein weiterer Staat in die neo-osmanische Einflusssphäre integriert werden könnte, drängte die türkischen Muslimbrüder schließlich noch zur entschlossenen Parteinahme. Durch die Türkei fließt bis heute die logistische und materielle Ader syrischer Nationaljihadisten sowie al-Qaidas und ihrer ideologischen Derivate. Flankiert vom türkischen Souverän hat eine Parallelstruktur außerparlamentarischer Muslimbrüder, wie die berüchtigte İHH, einen militärisch-“humanistischen“ Komplex begründet, inklusive Benefizabende, auf denen die Traditionslinie vom Mentor Osamas Abdullah Azzam über das spirituelle Haupt der Hamas Ahmed Yasin bis hin zum kaukasischen Emir Dokka Umarov gezogen wird. Es ist ein Milieu, in dem auch panturkistische Großmachtphantasien keimen und so beschriften in Aleppo Brigaden Grauer Wölfe ihre Artilleriegeschosse mit den Namen nationaler Idole: wie Muhsin Yazıcıoğlu etwa, Gründer der „Partei der Großen Einheit“ und Hauptinitiator des antialevitischen Pogroms von Maraş.

In diesen Tagen, an denen sich die türkischen Muslimbrüder mit Russen und Iranern auf das Gröbste verständigen, könnte man denken, dass die offene Flanke für den sunnitischen Jihad gegen die „Majus“ und „Rafida“ - womit Iraner und syrische Alawiten als verborgene Zoroastrier und Ablehner der reinen Tradition, der ahl as-sunna, denunziert werden – abgeschwächt wird. Doch alles andere als das: Die syrischen Taliban der Ahrar al-Sham, die Halsabschneider der Harakat Nour al-Din al-Zenki und andere Offshoots des Todes können weiterhin auf ihr türkisches Peshawar entlang der Grenze vertrauen. Ganz so wie ihre schiitischen Komplementäre auf den Iran, der mit den Qods-Pasdaran und der Hezbollah direkten Zugriff auf die Kommandohöhe des Regimes Bashar al-Assads hat. Morden und Aushungern in Aleppo und anderswo halten an – denn worauf es in Syrien am wenigstens ankommt, ist das Leben eines Syrers oder einer Syrerin.

Beide, die Türkei und der Iran, beschwören einmütig die territoriale Integrität Syriens und adressieren dies als Drohung an jene, die dem obskurantistisch-faschistischen Irrsinn durchbrechen und einer Säkularität ohne panarabisch verbrämter Konfessionalisierung gerecht werden. Wie ansonsten nur die Europäer sprechen die türkischen Muslimbrüder inzwischen über den Iran als zentralen Stabilitätsfaktor in Syrien und dem Irak (neben den Russen und ihnen selbst natürlich), während das Schlachten in Aleppo und anderswo kein Ende nimmt. Agitierte Recep Tayyip zuvor noch die ihm Hörigen als „Generation, die Damaskus und Jerusalem erobern wird“ und „Nachkommen Selahaddin Eyyubi“, dem dies im zwölften Jahrhundert gelang, und gilt Bashar al-Assad jedem Muslimbrüder weiterhin als „Şeytan“, wird selbst noch diesem eine Funktion in einem befriedeten Syrien zugestanden. Und während der türkische Nachrichtendienst MİT in Nordsyrien als logistische Guerilla für den sunnitischen Jihad fungiert – und mit der Liwa Sultan Murad seine eigene Brigade hat –, reist dessen Führung nach Damaskus zur Sondierung beidseitiger Interessen. Auf das Kompliment an den Iran hin, einer türkischen Staatsvisite in die klerikale Despotie und den Gesten der Beschwichtigung gegenüber dem Regime Bashar al-Assad folgte dessen Aggression gegen das multiethnische al-Hasakah im nordöstlichen Syrisch-Kurdistan, wo bis zu ihrer erzwungenen Kapitulation noch Residuen des Regimes ausharrten. Dabei ist eine direkte Absprache wenig realistisch. Das Regime der Hizb al-Ba‘ath, selbst ideologisch ausgehöhlt durch die Iranisierung der ihm loyalen Militanten, hat in al-Hasakah beständig dann militärische Konfrontationen provoziert, wenn der „Islamische Staat“ im Nordosten territorial einzubrechen drohte. Die Existenz von Daʿish ist nach wie vor das Kalkül des Regimes, einerseits Syrisch-Kurdistan in seiner Zersprengtheit zu halten und andererseits sich selbst als Stabilitätsfaktor gegenüber US-Amerikanern und Europäern anzuempfehlen. Es mag aber auch nur der vorherrschende Chauvinismus des Arabisierungsregimes der Hizb al-Ba‘ath, der Partei der nationalen Wiedergeburt, sein, der zu Provokationen gegenüber der selbstbewusst gewordenen Minorität drängt.

Der nationalchauvinistische Boulevard in der Türkei produziert indessen wie verrückt Verschwörungsgerüchte über „einen Plan: Kurdischer Staat“ als Vorstufe zu einem „Großisrael“. Synchron zur türkisch-iranischen Kumpanei gegen die einzige säkulare Hoffnung für Syrien integrieren sich in der Türkei die traditionellen Nationalisten in die Staatsfront. „Es gibt keinen Unterschied zwischen IŞİD, FETÖ und PKK. Sie wollen die Muezzine zum Schweigen bringen, unsere Fahne senken, unser Vaterland teilen und unser Volk spalten“, heißt es bei Recep Tayyip. „FETÖ“, der „Islamische Staat“, die Abtrünnigen im Südosten sind alles Instrumente einer einzigen perfiden Verschwörung gegen die Türkei, heißt es ganz ähnlich bei Sözcü oder der „religionskritischen“ Aydınlık, den Agitatoren unter den Soldaten Mustafa Kemals.

Am 24. August marschierte schließlich türkisches Militär und loyale syrische Mujahidin in das Grenzstädtchen Cerablus ein, das Daʿish zuvor noch jahrelang als logistisches Nadelöhr in das türkische Peshawar, dem nahen Gaziantep, diente. Wer sich noch an die ungestört grinsenden Genozideure erinnert kann, die vor türkischer Beflaggung am Grenzübergang Cerablus – Karkamış feixten, ahnte da bereits, dass die türkische Entschlossenheit, das Grenzstädtchen einzunehmen, jemand ganz anderem gilt als Daʿish. Eine direkte Konfrontation blieb in Cerablus folglich auch aus. Daʿish konzentriert seine Übergebliebenen inzwischen an der Front zum geteilten Feind, südlich von al-Hasakah attackiert sie die Hêzên Sûriya Demokratîk, eine US-amerikanisch flankierte Militärkoalition um die Yekîneyên Parastina Gel, der de-Facto-Armee Syrisch-Kurdistans, der assyrisch-christlichen Mawtbo Fulhoyo Suryoyo und der multiethnischen Jaysh al-Thuwar von der „Freien Syrischen Armee“. In der Geisterstadt Cerablus schwirren indes jene Mujahidin aus, die anderswo längst aufgerieben sind oder sich der Übermacht der syrischen al-Qaida und ihrer Derivate andienen: Die mit den syrischen Muslimbrüdern assoziierte Faylaq al-Sham; die „salafistisch-quietistische“ Bewegung Nour al-Din al-Zenki, die jüngst ein Feindeskind die Kehle durchschnitt; die Jabhat al-Shamiya, eine Militärkoalition unter Führung der syrischen Taliban von Ahrar al-Sham; die panturkistische MİT-Brigade Sultan Murad sowie nationaljihadistische Affiliate der in sich zersprengten „Freien Syrischen Armee“ wie Liwa Muntasir Billah und Jaysh al-Nasr. Wie im türkischen Südosten kursieren die ersten Selbstporträts Grauer und Grüner Wölfe mit gespreizten Fingern – oder von türkischen Militärs im Schulterschluss mit Bärtigen. Es sind nahezu dieselben Akteure, die seit Längerem die kurdische Enklave Şêxmeqsûd im nördlichen Aleppo unter dem ewig gleichen Gebrüll „Allahu Ekber“ terrorisieren – einzig die syrische al-Qaida fehlt.

Der türkische Ministerpräsident von Führers Gnaden, Binali Yıldırım, sprach dann als erster unverhohlen aus, wem der Einmarsch nach Cerablus schlussendlich gilt. Es war die Befreiung von Manbij durch die Yekîneyên Parastina Gel, der den türkischen Einmarsch erzwungen habe. Unvergessen die Freude der Befreiten, die das Ende der Despotie mit dem Gröbsten feierten, dem Verbrennen des Niqab, den der „Islamische Staat“ zwangsverordnete, oder einer Bartrasur. Für die Türkei aber rückte mit einem befreiten Manbij die Bedrohung näher. Favorisiere die Türkei auch ein Syrien ohne Bashar al-Assad, so Binali Yıldırım, müsse sie doch akzeptieren, dass er ein russischer Protegé sei und eine Befriedigung Syriens sei abhängig von einer Verständigung mit Russen und Iranern – andernfalls träten „terroristische Organisationen“ wie eben jene Selbstverteidigungsbrigaden Syrisch-Kurdistans hervor. Ein Kommandant der Jabhat al-Shamiya spricht indessen die Stoßrichtung des türkischen Einmarsches aus: die Eroberung von al-Bab, um dort den Abtrünnigen vorzukommen. In der Konsequenz ist die Teilnahme der mächtigsten Nationaljihadisten des nördlichen Syriens – mit Ausnahme der syrischen al-Qaida – an dem türkischen Militäreinmarsch auch eine indirekte Entscheidung für das Regime Bashar al-Assads. Nach dem Vormarsch der Regimeloyalisten in der Provinz Aleppo zu Beginn des Jahres, reorganisierten sie sich in Azaz, unweit zur türkischen Grenze. Sie kamen ihren Glaubensbrüdern nicht in der Schlacht um Aleppo bei, viel mehr instruierte sie der türkische MİT in der Einnahme von Cerablus und der militärischen Absicherung des Korridors Cerablus – al-Rai – Azaz.

Der frühere Oberbehilfshaber des türkischen Militärs İlker Başbuğ – auch ihn verfolgte die Justiz im Jahr 2012 als einen der Ergenekon-Verschwörer, nach vorzeitigem Haftende versöhnte er sich mit den Muslimbrüdern – fordert in der traditionslaizistischen Hürriyet dazu auf, bis nach Manbij und al-Bab vorzustoßen. Einzig so könne eine Quasi-Staatlichkeit in Syrisch-Kurdistan verunmöglicht werden. Başbuğ spekuliert auf eine Absprache zwischen Ankara und Moskau: Aleppo gegen Cerablus – Manbij - al-Bab – Azaz. Denn für Bashar al-Assad und Vladimir Putin sei die Grenzregion von geringerer Relevanz.

Jahrelang eskalierten die Türkei und ihre alliierten Monarchien am Arabischen Golf einerseits, der khomeinistische Iran und das Regime der Hizb al-Ba‘ath andererseits die ohnehin angereizte Konfessionalisierung Syriens; jahrelang übernahmen türkische und katarische Muslimbrüder die Organisierung der militanten Opposition als Jihadisierung derselbigen und gewährt die Türkei – ja, nach wie vor – der syrischen al-Qaida und ihrer ideologischen Derivate ein logistisches Refugium. Dass der türkische Ministerpräsident die syrische Katastrophe mit hunderttausenden Geschlachteten und unter Trümmern Begrabenen in jenen sieht, die ihre militante Organisierung als Frauenbefreiung und Selbstverteidigung zivilisatorischer Residuen verstehen, mag da äußerst konsequent sein.

Dabei gilt auch einigen Freunden der „syrischen Revolution“ die Partiya Yekitîya Demokrat (PYD) und ihr militärischer Flügel, die Yekîneyên Parastina Gel, als anrüchig; auch wenn es weniger die realen Begebenheiten in Syrien zu sein scheinen, in denen ihr Unbehagen gründet, als eigene Befindlichkeiten. So redet man doch vor allem von sich selbst – oder konkreter: von jenen, mit denen man nichts gemein haben möchte. Der „Rojava Revolution“ scheinen sie entweder nachzutragen, die falschen Freunde zu haben, oder aber selbst doch irgendwie ein Relikt sozialistischer Modernisierungsideologie zu sein, die in Nicaragua und anderswo so brutal gescheitert ist. Die „Freie Syrische Armee“ dagegen interessiert kaum jemanden aus jenem ideologischen Klüngel, gegenüber dem man Distinktion gewinnt, aber eben darin auf ihm bezogen bleibt. Sie eignet sich also für die eigene Mythenbildung* um eine von allen verratende „demokratische Opposition“, die unter den Militanten in Nordsyrien doch längst nicht mehr existiert. Jaysh al-Tahrir, Hamza Division, Jaysh al-Nasr – die „quietistischen“ Mujahidin der „Freien Syrischen Armee“, die man als das ganz Andere zu al-Qaida und Daʿish ausgemacht hat, sind Teil der türkischen Aggression. Das Gerücht über den Dolchstoß verschleiert die eigentliche Katastrophe: die Säkularen Syriens sind nicht nur vom ersten Tag mit den aggressivsten Feinden von Aufklärung und Mündigkeit alleingelassen, es wird auch regungslos zugesehen, wie die Türkei und der Iran, die Stabilitätsgaranten vor dem Herren, noch die letzte Hoffnung zugrunde richten.


Einen knappen Monat nach dem Massaker an den Satirikern von Charlie Hebdo reiste eine Delegation aus Syrisch-Kurdistan - unter ihnen die Kommandeurin der Yekîneyên Parastina Jin in Kobanê, Nesrin Abdullah, sowie die Co-Vorsitzende der Partiya Yekitîya Demokrat, Asya Abdullah – nach Paris. Eingehakt mit den Überlebenden von Charlie Hebdo traten sie auf die Straße, wo am 7. Januar 2015 der „Islamische Staat“ gnadenlos zuschlug, und schworen, die Toten des Massakers zu rächen. Die Delegation gedachte auch vor dem jüdischen Kaschrus-Markt Hyper Cacher den Ermordeten. Mit begrenztem Erfolg hatten die Angereisten zuvor selbst konkrete Solidarität eingefordert und daran erinnert, dass sie die universalen Werte der einen Gattung Menschheit und nicht allein sich gegen die Genozideure von Daʿish verteidigen. Als am 16. Juni 2015 die Yekîneyên Parastina Gel und ihre arabischen Alliierten das Grenzstädtchen Tel Abyad von Daʿish befreiten, kursierten als erstes die Bilder von Frauen, die ihren Gesichtsschleier verbrannten, einige rissen sich auch jeglichen Schleier vom Haupt. Die Türkei drohte indessen mit Artillerie. In Manbij wiederholten sich die Bilder – und die Drohungen. Wer Jahr für Jahr angesichts der Bilder protestierender Frauen am 8. März 1979 in Teheran in Nostalgie schwelgt, wird, so droht es, in einigen Jahren wieder hinreichend Bildmaterial haben. Solidarität mit der Yekîneyên Parastina Gel heißt nicht, aus dem Gröbsten eine Heilsideologie zu machen und zu ignorieren, dass auch dieser Organisation die Tendenz, dass ein Abstraktes – das Nationale – zum Selbstzweck wird, nicht völlig fremd ist. Es ist die Verteidigung einer Hoffnung, die etwa darin Ausdruck findet, wie Befreiung gefeiert wird.

Eine Kämpferin der YPJ zerstört im befreiten al-Hawl ein Plakat, auf dem die Ganzkörperverschleierung angeordnet wird. 

* Viele der Gerüchte, die PYD hätte die syrische Opposition verraten, sind Teil der Propaganda jener arabischen Nationalchauvinisten und völkischen Panturanisten, denen die Verdächtigten nie als anderes galten als Abtrünnige des Vaterlandes und Ungläubige; den einen sind sie eine getarnte Haganah, den anderen die Nachfolger der armenischen Rachebrigade ASALA. Wenn das Regime der Hizb al-Ba‘ath und eine Mehrheit innerhalb der Opposition etwas teilen, dann die Mystifizierung Syriens als erhabene arabische Nation. Eines der Gerüchte besagt, dass die Yekîneyên Parastina Gel systematisch Araber und Turkmenen aus den von Daʿish befreiten Territorien hinausdrängt. Selbst das der traditionellen Opposition verpflichtete Syrian Observatory for Human Rights widersprach entschieden den von der Türkei und ihren verbrüderten Militanten erhobenen Verdächtigungen. Temporäre Aussperrungen von Arabern oder Turkmenen aus ihren Dörfern, so SOHR, gründen in der militärischen Absicherung der befreiten Territorien, wo noch Sprengfallen lauern oder die Bedrohung andauert, dass suizidale Kommandos von Daʿish wieder einsickern könnten. Nach der mit der „Freien Syrischen Armee“ affiliierten Brigade Thuwar al-Raqqa entscheiden sich auch Familien gegen einen Verbleib, da Angehörige noch loyal zu Daʿish stehen. Natürlich existieren auch antiarabische Ressentiments, genährt durch das Arabisierungsregime der Hizb al-Ba‘ath, doch von einer Systematik zu sprechen, ist allein in der Erinnerung daran, dass tagtäglich Araber etwa aus Aleppo ins kurdische Afrin flüchten, absurd.

Streift das Gerücht der Kollaboration durchaus einen historischen Fakt - dem jahrelangen vom Regime instrumentalisierten und im Jahr 1998 beendeten Exil Abdullah Öcalans in Syrien -, ignoriert es nicht nur die Repression, die auf die spätere Gründung der illegalen Partiya Yekitîya Demokrat folgte. Die Gerüchte akkumulieren viel mehr alle nationalen Ressentiments gegenüber den Verfolgten des Arabisierungsregimes der Hizb al-Ba‘ath: die PYD als skrupellose Profiteurin der „syrischen Revolution“. Als hätte sie nicht allen Grund, einer Opposition zu mißtrauen, die nicht nur in Abhängigkeit zur Türkei steht, darüber hinaus in weiten Teilen auch nicht mit der nationalchauvinistischen Ideologie des Regimes gebrochen hat. Und als wäre die – ohnehin brüchige – militärische Passivität gegenüber Bashar al-Assad nicht der Grund, dass in Qamishlo oder al-Hasakah noch nicht Straße für Straße geschlachtet worden sind.