Freitag, 9. März 2018

Von Aleppo nach Afrin – Notizen zur Logik der Vernichtung


Ja, es ist wahr“, sprach der Sheikh, der in der Schlacht um Aleppo zugleich als Kommandeur einer sunnitischen Miliz fungierte, offen aus: „Circa 70 % vom urbanen Aleppo ist dem Regime treu. Das ländliche Hinterland ist mit uns, die Stadt ist mit ihnen.“ Es dauerte mehr als ein Jahr, dass die Logik der Vernichtung, die zuvor Homs verschlang, auch in das urbane Aleppo einzog. Es war die überwiegend rurale sunnitische Peripherie, aus der Ende Juli 2012 die Militanten der mit den Muslimbrüdern affiliierten al-Tawhid Brigade, der berüchtigten Harakat Nour al-Din al-Zenki sowie der „Freien Syrischen Armee“ (FSA) nach Aleppo einsickerten, um sich in den Betonschluchten einzugraben und jene als Geisel zu nehmen, die nicht zuvor flüchteten. Als militärisches Gehirn fungierten vor allem desertierte Militärs, als Rekrutierer nahmen Imame und salafistische Wanderprediger eine zentrale Funktion ein. Als gewiefte Start-up-Unternehmer warben die Warlords vor allem in Qatar und Türkei um Finanzierung ihrer urbanen Schlacht, die alsbald ein eigenes ökonomisches Eigenleben ausbrütete. Die Brigade Ahrar Souriya montierte in Aleppo ganze Fabrikanlagen ab und verkaufte diese in die Türkei. Der Verlust der Frontposition durch Militante, die ihre Beute in das Hinterland abtransportierten, war eines der augenfälligsten Phänomene in jenen Tagen.

Die Türkei der Muslimbrüder bot von Beginn an die logistische Flanke des militärischen Vorstoßes. Über das türkische Transit gelangten mehr und mehr islamistische Internationalisten nach Aleppo: Veteranen des kaukasischen Emirats und der irakischen al-Qaida, salafistische Jungmänner französischer und belgischer Banlieues, militante Panturkisten. Spätestens ab Juli 2012 verfolgte die Türkei eine Strategie der forcierten Eskalation. Die Reaktion des Regimes von Bashar al-Assad folgte dem Prinzip: wenn Aleppo fallen sollte, dann nur als Ruine. Aber selbst angesichts der Gnadenlosigkeit, mit der das Regime explodierenden Stahlschrott über das okkupierte Aleppo und seine Geiseln abwarf, darf nicht vergessen werden, dass dort nicht wenige die sunnitischen Marodeure – ganz ohne Paranoia – zu fürchten haben. Die ersten, die sich militant gegen die Einnahme von Aleppo organisierten, waren christliche Armenier, deren Überleben angesichts der Jihadisierung der Opposition an das des Regimes gekettet war.

Die Durchhalteslogans von Freunden der „syrischen Revolution“, an der urbanen Front auszuharren, ähnelte in den folgenden Jahren mehr und mehr der Forderung nach der Verewigung der Vernichtungslogik. Was das folgerichtige Programm der Solidarität hätte sein müssen, lag auf der Hand: die konsequente Denunziation des Irans, der die Konfessionalisierung des Regimes forcierte, sowie der Türkei, die die sunnitische Reaktion ausreizte. Die europäische Kollaborationspolitik dagegen ernannte die beiden Aggressoren zu potenziellen Stabilitätsstiftern. Nicht, dass nicht auch ohne die fatale Internationalisierung der syrischen Katastrophe Folter und Mord existieren würde – doch das Ausbremsen des türkischen und iranischen Vorstoßes in Syrien hätte jenen, die für ein anti-konfessionalistisches und säkulares Gemeinwesen einstehen, zumindest noch einen weiteren tiefen Atemzug ermöglicht. Die Konfessionalisierung des Regimes ist eine Strategie des Irans. Anders verhält es sich bei den Alawiten, die in vor-baʿthistischen Tagen als Häretiker verächtlich gemacht vor allem in bäuerlichen Gemeinden entlang des schützenden Küstengebirges im heutigen Gouvernement Latakia lebten. Über ihren überproportionalen Anteil im Militär – da den wenigsten von ihnen es möglich war, sich vom Dienst freizukaufen – sowie in der panarabistischen al-Ba'ath-Partei gelang es einigen von ihnen zentrale Funktionsstellen im militarisierten Staat zu erobern. Im Staat angekommen, verfolgten sie eine Strategie der religiösen Selbstverleugnung, um die Feindseligkeit der sunnitischen Ulema abzuschwächen. Als Führer im Staat betete Hafez al-Assad demonstrativ in der Moschee – was die syrischen Muslimbrüder nicht davon abhielt, gegen das „häretische Regime“ zu agitieren und militante Untergrundzellen zu organisieren. Mit zunehmender Abhängigkeit vom klerikalfaschistischen Iran trat unter seinem Sohn Bashar eine oberflächliche Schiitisierung der Alawiten ein. Die Massendesertionen in der multikonfessionellen Armee kompensierte der Iran mit der Infiltrierung Syriens durch die Hezbollah und ihrer irakischen, afghanischen und pakistanischen Filialen. Sie sind der militante Rammbock der iranischen Großraumpolitik. Der klerikalfaschistische Iran hat ein Interesse an der Eskalation des konfessionalistischen Irrsinns damit er als selbst ernannter Patron der Angehörigen der Shiah auftreten kann. Da nur wenige Gläubige der Shiah in Syrien leben – weit weniger als Christen – tarnte der Iran seine Militärkampagne zunächst als Verteidigungsauftrag für den Sayyidah Zaynab Schrein südlich von Damaskus.

Warlord Erdoğan

Die Türkei der Muslimbrüder – als selbst ernannter Patron der Sunniten – fungiert dem Iran als Komplementär. Am 31. Juli 2016 begann die von der Türkei flankierte Jaysh al-Fatah – ein operativer Verbund der al-Nusra Front mit Ahrar al-Sham, Harakat Nour al-Din al-Zenki und Faylaq al-Sham – von Süden aus eine Offensive auf Aleppo. Während dieser letzten Phase der Schlacht um Aleppo rangen Vladimir Putin, militärischer Patron Bashar al-Assads, und Recep Tayyip Erdoğan, der führende Warlord der sunnitischen Militanten, um den strategischen Profit, der aus der Ruine Aleppo gezogen werden konnte. Der türkische Staatspräsident plauderte über ein Gespräch mit Putin, dass er „unseren Freunde“ anbefohlen habe, das urbane Aleppo zu verlassen. Die panturkistische Sultan Murad Brigade, die mit den syrischen Muslimbrüdern affiliierte Faylaq al-Sham sowie loyale Fraktionen innerhalb der syrischen Taliban der Ahrar al-Sham hatten bereits Monate zuvor Aleppo hinter sich gelassen und sich für die Stoßrichtung der türkischen Militärkampagne Fırat Kalkanı entschieden, also Beschwichtigung gegenüber Bashar al-Assad und Fokussierung auf den Vernichtungsfeldzug gegen ein föderales Nordsyrien.

In Ankara richtete am 19. Dezember 2016 der junge Polizist Mevlüt Mert A. den höchsten russischen Repräsentanten in der Türkei, Andrey Karlov, mit pathetischer Haltung hin: „Allahu Ekber“ und Rache für Aleppo. In jenen Tagen beschworen türkische Muslimbrüder den Fall von Aleppo als neues Srebrenica. Die Empörung diente der staatstragenden Inszenierung als sunnitisches Opferkollektiv und täuschte darüber hinweg, dass es doch die Türkei selbst war, die das östliche Aleppo aus taktischem Kalkül fallen ließ. Wenige Stunden nach dem Mord an Andrey Karlov traf sich Mevlüt Çavuşoğlu, mit den russischen und iranischen Amtskollegen Sergej Lawrow und Mohammad Javad Zarif in Moskau. Als wäre Aleppo einzig geschlachtet geworden, um die selbst verschuldete Machtlosigkeit der US-Amerikaner und Europäer in Syrien vorzuführen, einigten sie sich auf einschneidende Frontverschiebungen.

Unter türkischer Protektion sickerten 2012 die sunnitischen Milizionäre nach Aleppo ein, wo sie die Stadt mit ihren rivalisierenden Komplementären, dem Regime Bashar al-Assads und seinen iranischen und russischen Patronen, zur Ruine schliffen. Im Jahr 2016 arrangierte die Türkei der Muslimbrüder den Fall des östlichen Aleppos an das Regime, einzig um die Aggression anderswohin zu wenden. Und in diesen Tagen fallen die letzten Teile der Stadt an das Regime, weil die kurdischen Föderalisten gezwungen sind, diese zu verlassen, um ihren Genossen in Afrin beizukommen. Die Katastrophe von Aleppo ist vor allem auch eine türkische mit ungezählten Toten.

In denselben Tagen des Jahres 2012, an denen die Schlacht um Aleppo ausbrach, überrannten die kurdischen Föderalisten die verbliebenen Garnisonen des Regimes in Kobanî und anderswo in wenigen Stunden oder Tagen. Die sunnitischen Militanten erzwangen die ganze Konzentration des Regimes auf Aleppo, dem ökonomischen Herzen Syriens – in der Konsequenz eröffneten sie somit den Föderalisten den Weg zum territorialen Vorstoß. Viel entscheidender wirkte aber etwas anderes: im Unterschied zur blinden Rache in den sunnitisch „befreiten“ Zonen wurden in Syrisch-Kurdistan die überwältigten Soldaten nicht gelyncht oder ihnen ähnliche Torturen angetan, für die das Regime berüchtigt ist. Man rächte sich nicht an den Parteigängern des Regimes, deren Funktion vor allem eine administrative oder ökonomische war. Und vor allem trieben die Föderalisten die nicht-sunnitischen Minoritäten, allen voran die Christen, nicht weiter in den väterlichen Würgegriff des Regimes. Der Norden Syriens war in der Republik der al-Ba'ath einem rigorosen Arabisierungsregime unterworfen, einschließlich systematischer Ausbürgerung von Kurden, der Etablierung arabischer Wehrdörfer und Sprachverboten. Doch ganz anders als etwa in den Wintertagen der Kiewer Revolte wurde das Ancien Régime nicht unter der kollektiven Erhöhung der Nation und dem Ausagieren an dem „Fremdartigen“ abgeschüttelt. Die forcierte Etablierung föderaler Strukturen in Nordsyrien war und ist vielmehr die ausgestreckte Hand zur Versöhnung.

Auch im urbanen Aleppo brachten die Föderalisten Teile der Stadt unter ihre Kontrolle. Es traf sie bis zu dem Fall von Aleppo wieder und wieder die Aggression sunnitischer Militanter und die des Regimes. In Aleppo befehligte Yasser Abdul Rahim die Fatah Halab, als deren Artillerie monatelang flankiert vom Mordgebrüll „Allahu Akbar“ die kurdische Enklave Sheikh Maqsoud terrorisierte. Als Kommandeur der Faylaq al Sham macht er nun Karriere im „Nationalen Heer“, dem syrischen Frontvieh der türkischen Aggression gegen Afrin. Vor allem die Entführungsindustrie, in der die sunnitischen Militanten erfolgreich auftraten, identifizierte Kurden als menschliche Beute. Die kurdische Partiya Yekîtiya Demokrat (PYD) äußerte sich unmissverständlich zu Aleppo, dass sie für keine Seite Partei einnehmen wird, da beide für Syrien nur menschliches Leid und völlige Devastation brächten. Die sich ständig ändernden Frontkonstellationen erzwangen, dass an manchen Tagen ein taktischer Verbund defensiven Charakters mit der FSA eingegangen wurde, um das Regime auf Distanz zu halten, und an anderen Tagen mit dem Regime, um die Aggression der Fatah Halab abzuschwächen.

Wenig mehr als ein Jahr nach Ausbruch der Schlacht um Aleppo nahmen die al-Nusra Front, Ahrar al-Sham und die al-Tawhid Brigade im Verbund mit Daʿish, dem in der Levante aufstrebenden „Islamischen Staat“, das kurdische Kobanî in ihr Visier. Doch es war der kompromisslose Führungsanspruch von Daʿish, der diese Allianz unter türkischer Protektion alsbald wieder sprengte. Das Regime von Bashar al-Assad erkannte dies und ließ die Takfīr-Militanten an verschiedenen Fronten gewähren, während manch eine der von Daʿish aufgeriebenen Brigaden der FSA von nun an mit den kurdischen Föderalisten kooperierte.

Die Hölle von Ost-Ghouta

Anders als das urbane Aleppo war Ost-Ghouta von Beginn an eines der Zentren der Erhebung gegen das Regime. Doch noch zu Beginn ihrer Militarisierung war abzusehen, dass die Freiheit der Syrer weder im Fortbestand des Regimes noch im Durchbruch der militanten Opposition gründen kann. Das Regime unterscheidet in Ost-Ghouta noch weniger als anderswo zwischen Geiselnehmer und Geiseln und identifiziert beide als „Läuse und Ratten“, wie es jüngst ganz in baʿthistischer Tradition über die Eingeschlossenen gesprochen hat. Dass die sunnitischen Militanten vor allem als Okkupanten auftreten, ist dabei augenfällig: Die Rackets, die Ost-Ghouta in zähen Gangfehden unter sich aufgeteilt haben, imitieren die Brutalität des Regimes und ummanteln diese mit der rohsten Variante der Shariah. Nicht wenige der in Ost-Ghouta Eingeschlossenen schimpfen die salafistische Jaysh al-Islam als Variante der „Shabbiha“, der berüchtigten Clanmiliz Bashar al-Assads. Ihre eigene politische Polizei verfolgt nicht weniger gnadenlos als das Regime Dissidenten, Shariahtribunale richten über Abtrünnige. Mit der Jaysh al-Islam rivalisiert die mit den Muslimbrüdern affiliierte Faylaq al-Rahman, die bei den vergangenen Revierschlachten mit den Derivaten der syrischen al-Qaida (Tahrir al-Sham) kooperiert hat. Eine kleinere Zone in Ost-Ghouta wird von dem lokalen Franchise der syrischen Taliban der Ahrar al-Sham kontrolliert.

Nicht nur die Kommandohöhen von Bashar al-Assad und Vladimir Putin unterscheiden nicht zwischen Geiselnehmern und Geiseln, auch die Mörser der sunnitischen Militanten feuern tagtäglich blind auf das angrenzende Damaskus, vor allem auch auf das christliche Bab Tuma. Was unzweifelhaft ist: alle militärischen Akteure befinden sich in einer Logik der Vernichtung. Für Vladimir Putin ist Syrien die erfolgreiche Feldstudie russischer Militärtechnologie – die einzige Industriesparte in der russische Technik anderen Konkurrenz macht – sowie vor allem der Frontstaat ordnungsimperialistischer Rivalität mit den Europäern und US-Amerikanern. Das russische Kalkül ist es, die sunnitischen Militanten von Ost-Ghouta in die Provinz Idlib zu transferieren, wo das Morden andauern würde. Zu befürchten wäre ihre (Teil-)Integration in die türkische Militärkampagne gegen die Förderation.

Rachefeldzug gegen die Föderation der Abtrünnigen

In Afrin wird die syrische Katastrophe endgültig zur Farce. Dort, wo mit der Logik der Vernichtung gebrochen wurde, mahnen alle vom Generalsekretär des Nordatlantikpakts über die Charakterfratze aus dem Auswärtigen Amt bis zu ihrem US-Amerikanischen Amtskollegen die Beachtung „türkischer Sicherheitsinteressen“ an, wo die Türkei der Grünen und Grauen Wölfe selbst unbekümmert von einem Vernichtungsfeldzug spricht. In der syrischen Hölle trafen die kurdischen Föderalisten und ihre Freunde geduldig und umsichtig ihre Entscheidungen. Von Beginn an kritisierten sie die Vereinnahmung der sunnitischen Opposition gegen Bashar al-Assad durch die Türkei, Qatar und Saudi-Arabien. Und von Beginn an vermieden sie jede militärische Konfrontation, die nicht der Verteidigung des Erreichten oder der Befreiung vom Kalifat des Todes diente. Das Arabisierungsregime der al-Baath hat jahrzehntelang Hass gesät, doch die Föderalisten haben ihn nicht geerntet. Sie konterten den arabischen Nationalchauvinismus, der sich in Entrechtung, Verfolgung und Folter tagtäglich konkretisierte, nicht durch eine nationalistische Gegenmobilisierung – es sei denn man hält Schulunterricht in der Muttersprache für völkische Regression, Sprachverbot und gebrochene Kinderfinger dagegen für Kollateralschäden der Modernisierung.

Die ersten von der Türkei gestreuten und von „Amnesty International“ kolportierten Gerüchte über ethnisierte Gewalt seitens der Föderalisten kamen erst auf, als diese bei ihrem Vormarsch auf den „Islamischen Staat“ im Jahr 2015 die Grenzstadt Tell Abyad befreiten. Tell Abyad war am 30. Juni 2013 an Daʿish und die al-Nusra Front gefallen. Unvergessen sind die Bilder, auf denen die islamistischen Genozideure am Grenzübergang feixten und ungestört vom türkischen Militär mit Gewalt Flüchtende abhielten, auf die andere Grenzseite zu gelangen. Die berüchtigte türkische Todesschwadrone Dokumacılar*, die die suizidalen Massaker in Diyarbakır, Suruç und Ankara ausführte, reiste hier ein und aus. Nach der Eroberung von Tell Abyad verlasen die Soldaten des kommenden Kalifats von den Minaretten der Moscheen ein Ultimatum an alle Kurden außer den Ihrigen, Tell Abyad zu verlassen oder sterben zu müssen. Mit ihnen flohen in den folgenden Tagen unzählige Araber und Turkmenen. In den verlassenen Häusern brachte der „Islamische Staat“ vor dem Regime geflüchtete Sunniten aus dem Qalamoun Gebirge, Deir ez-Zor und Raqqa unter. Als im Juni 2015 die YPG – der militante Arm der Föderalisten – im Verbund mit ihnen assoziierter Brigaden der FSA – Tell Abyad befreiten, begrüßte sie das türkische Militär mit gegossenem Blei. Mit den letzten Soldaten des Kalifats flohen zuvor auch viele der Arabisierungsprofiteure, die mit dem „Islamischen Staat“ kollaboriert haben. Der Oppositionelle Rami Abdulrahman, Gründer des Syrian Observatory for Human Rights, verwarf die Anschuldigungen gegenüber den Befreiern als Nonsens. Aus militärischen Sachzwängen wie Straßensperrungen aufgrund von Tretminenräumung und der Fahndung nach Parteigängern des „Islamischen Staates“ macht die türkische Propaganda eine bösartige Strategie der Kurdifizierung. Der Projizierende kreidet dem Objekt an, wonach er selbst giert.

In Afrin blamiert sich jede moralinsaure Besorgtheit der Europäer über die Gewaltspirale in Syrien. Denn anders als in Ost-Ghouta, wo sich Regime und die islamistischen Okkupanten gegen das Leben verschworen haben, wäre es in Afrin weniger schwer, die einseitige Aggression auszubremsen. Die ökonomisch kriselnde Türkei ist nach wie vor von der Beschwichtigung der Europäer abhängig. Der familiär inszenierte Empfang von Mevlüt Çavuşoğlu im niedersächsischen Goslar zu Beginn des Jahres – just als in der Türkei die militärische und propagandistische Mobilmachung hochgefahren wurde – sowie das ungenierte Ausplaudern der Unternehmung, türkische Panzergefährte nachzurüsten, kann nicht anders gemeint gewesen sein denn als deutsche Billigung der Aggression gegen Afrin. Der Lobgesang von Sigmar Gabriel nach der Beendigung der Geiselnahme von Deniz Yücel auf die türkische Rechtsstaatlichkeit macht deutlich: sie schämen sich für nichts.

Das Millet gläubiger Nationalisten

Als die im Jahr zuvor gegründete AK Parti Erdoğans im Herbst 2002 als Reformpartei antrat, profitierte sie vor allem vom Totalbankrott der anderen großen konservativen Parteien. Vor allem die Doğru Yol Partisi („Partei des rechten Weges“) galt als Synonym für ein mafiöses Akkumulationsregime, ökonomische Krise und das Scheitern der Konterguerilla. Im Südosten waren die Todesschächte noch nicht geöffnet, in denen die Jahre zuvor unzählige Leichen – unter dem Verdacht, Parteigänger der PKK zu sein – von der Konterguerilla verscharrt wurden. Auch ganz ohne Empathie für die Ermordeten und Hinterbliebenen ahnten die Parteistrategen der AK Parti, dass mit der Existenz eines permanenten Ausnahmezustandes auch die Krise von Staat und Ökonomie persistiert wird. Den südöstlichen Großstädten, die in Wahrheit triste zu Slums verwachsene Dörfer sind, und ihrer ruralen Peripherie versprachen die Muslimbrüder Prosperität und Asphaltierung. Sie umwarben die sunnitischen Kurden mit dem Versprechen nach Brüderlichkeit unter dem Dach des Islams. Und doch profitierte die AK Parti wie keine andere Partei davon, dass die kurdischen Parteien weiterhin ständig mit Kriminalisierung und Repression konfrontiert waren.

In den Jahrzehnten der Republik entschieden im Südosten die Verbandelungen der feudalen Autoritäten mit den staatstragenden Parteien darüber, auf wen die höchsten Prozente entfielen. Im Jahr 1985 wurde diese kontinuierliche Feudalbande zwischen Stämmen und Staat mit dem Dorfschützersystem institutionalisiert. Unter Absolution des Souveräns konnten die erfolgreichsten Dorfschützer eine Ökonomie aus Zwangsenteignung von Landflächen, Landraub an den noch verbliebenen Assyrern und Eziden, Brautraub und Schmuggel etablieren. Der Feudalherr Sedat Edip Bucak vom gleichnamigen kurdisch-sunnitischen Aşiret saß für die DYP mehrere Amtsperioden als Abgeordneter der Dorfschützerprovinz Şanlıurfa in der türkischen Nationalversammlung. Der Befehlshaber über eine Armee an Dorfschützern überlebte als einziger in jener Mercedes S-Klasse, die am 3. November 1996 im westtürkischen Susurluk in einen abbiegenden Lastwagen gerast war. Neben ihm starben an diesem Tag Abdullah Çatlı, ein Grauer Wolf und berüchtigter Auftragsmörder, sowie Hüseyin Kocadağ, der in der Konterguerilla polizeiliche Karriere machte und zuletzt die Istanbuler Polizeiakademie führte. In dem Wrack fanden sich ein Päckchen Heroin, mehrere gefälschte Reisedokumente, hochkalibrige Revolver und Schalldämpfer. Das – und zusätzlich die islamistische Hizbullah – ist das mafiöse Milieu, aus dem heraus die Abtrünnigen der PKK bekämpft wurden. In der Westtürkei fuhren ihre Protagonisten Mercedes, im Osten dagegen war der „beyaz Toros“ berüchtigt. Die in der Türkei produzierten weißen Renaults sind ein Synonym für erzwungenes Verschwinden. Mit ihnen verschleppten Todesschwadronen unzählige Verdächtige, deren Leichen später in Schächten verscharrt wurden.

Die AK Parti distanzierte sich zunächst rhetorisch von der Bestialität der Konterguerilla – und zugleich instrumentalisiert sie diese unverhohlen als Drohung. Das Kalkül der AK Parti, die Kurden mit Koran und Kapital zu vereinnahmen, blamierte sich am 7. Juni 2015, als in manch kurdischer Provinz an der Urne über 80 Prozent auf die Halkların Demokratik Partisi (HDP) mit ihrer Idee einer föderalen Umstrukturierung der Türkei entfielen. Ahmet Davutoğlu, in jenen Tagen Ministerpräsident von Erdoğans Gnaden, drohte alsdann eine Wiederkehr der dunklen Ära der „beyaz toroslar“ an. Ihre perfide Strategie „Chaos oder Stabilität“ heißt Unterordnung als osmanische Schutzbefohlene oder Remobilisierung des nationalchauvinistischen Zorns auf die kurdischen Abtrünnigen. An der Seite des Staates finden sich wieder die feudalsten unter den Kurden ein: so rief die „Assoziation anatolischer Dorfschützer und Familien der Märtyrer“ in den Tagen der Abriegelung ganzer Distrikte im Südosten zur Einheit gegen „die Gottlosen“ der PKK mit „ihrer Mentalität von Kreuzfahrern“ auf. In den sunnitisch-konservativen Provinzen Şanlıurfa und Bingöl hängen ganze Distrikte am finanziellen Tropf des Dorfschützersystems. Und auch an der Front zu Afrin wird über die Rekrutierung von Dorfschützern spekuliert.

Darüber, wer als Abtrünniger zu gelten hat, entscheidet in der Türkei nicht die Shariah. Die Islamisierung erfolgt in der Türkei nicht über theologische Strenge. Viele islamische Rechtsbelehrungen des Islam-Amtes Diyanet – wie etwa, dass verlobte Pärchen es unterlassen sollten, in der Öffentlichkeit die Hand des anderen zu halten – blieben in der Türkei bislang die Absurditäten, die sie sind – außer in den anatolischen Dörfern, wo die Familienbande über die Keuschheit der Frauen wacht, sowie in den vielen anatolischen Dörfern innerhalb der Städte. Selbst in den höheren Parteistrukturen der AK Parti – und im Polizeiapparat sowieso – findet sich weiterhin die äußerliche Erscheinung des modernen, von Mustafa Kemal geforderten Frauentyps neben den züchtig bedeckter Frauen. Die Säkularisierung der Türkei – wenn auch eine beschädigte – ist zu weit vorangeschritten, als dass ein islamistischer Frontalangriff auf das Erbe Mustafa Kemals, wie im Jahr 1979 im Iran auf die Restbestände der Modernisierungsdiktatur anderes zu Folge haben könnte als eine existenzielle Staatskrise. Und doch ist der säkulare Charakter der Türkei ein Schein. Die Islamisierung der Türkei erfolgt über die aggressive Verschmelzung von Islam mit der nationalchauvinistischen Kontinuität in der Republik und der Rachsucht an den Abtrünnigen der nationalen Einheit: „Eine im Glauben geeinte Nation, eine Flagge, ein Vaterland, ein Staat“ (Tek millet, tek bayrak, tek vatan, tek devlet), verfleischlicht in der Führerfigur Recep Tayyip Erdoğan, das ist die nationalisierte Shahada Grüner und Grauer Wölfe. Wer hinter der blutroten Flagge nicht stramm steht, gilt als Apostat, gehetzt von Justiz, Rotte oder, wie in Afrin, der Armee.

Im theologischen Seminar ist die türkische Ideologie nicht zu ergründen. Die Staatsfront gegen Afrin ist auch keine ausschließlich islamistische. Wie bei der Genozidlüge und der aggressiven Schuldprojektion assoziieren sich die laizistischen „Soldaten Mustafa Kemals“ im Hass auf die Abtrünnigen am Vaterland mit den panturkistischen Grauen Wölfen und den Muslimbrüdern. Entscheidender als die ohnehin mangelhafte Surentreue der Türken sind Krise, nationalchauvinistische Formierung und Racketisierung. Die (Re-)Islamisierung ist auch kein Bruch mit der Republik, das Potenzial dazu schlummerte in ihr vom ersten Tag an. Der Genozid an den anatolischen Armeniern und den mesopotamischen Assyrern sowie die beidseitigen Massaker und Massendeportationen an und von christlichen Griechen koppelte die nationale Identität schicksalhaft an den Islam, auf dessen arabischen Ursprung die Modernisierungsnationalisten in Tradition Mustafa Kemals zugleich argwöhnisch herabblickten. Es war die Teilhabe an Ausplünderung und Mord, die die Religiösen mit der Modernisierungsdiktatur präventiv versöhnte und eine Nation begründete, deren Schuld sich in der Paranoia äußert, die Ermordeten und Verleugneten könnten aus ihren Gräbern aufstehen und als pseudokonvertierte Christen, „armenische Diaspora“, oder – wie es die Muslimbrüder zu sagen pflegen – als „Kreuzfahrer“ Rache nehmen und den Keil ins Vaterland schlagen. Die Überlebenden galten noch in den ersten Jahrzehnten der Republik, die den Islam gnadenlos entarabisierte und dem Modernisierungsauftrag von Ökonomie und Apparat unterwarf, allerhöchstens als Kanun Türkü, als „gesetzliche Türken“, mit dem ihnen eingebrannten Stigma, keine Muslime des Blutes zu sein. Die Durchdringung des türkischen Islams durch die ideologischen Elemente Rasse und Blut ist Erbe der formal laizistischen Republik. Der türkische Boulevard, wie die traditionslaizistische Hürriyet, hat bereits in den dunkelsten Tagen der Konterguerilla das Gerücht gestreut, dass tot aufgefundene Militante der PKK noch eine Vorhaut gehabt hätten.

Und doch sind es die Muslimbrüder, die heute den Takt der Marschkapelle vorgeben. Staatspräsident Erdoğan denunziert die YPG als „ungläubige, gottlose terroristische Organisation ohne heilige Schrift“. Nach Yeni Akit, einer Gazette aus dem Dunstkreis der Millî Görüş, verfolgen die Föderalisten den Abfall der Kurden vom Islam. Da sie selbst „gottlos“ seien, brächten sie zu diesem Zweck den zoroastrischen Kult in Anschlag. Auffällig, so die Gazette, sei es, dass ihre Gefallenen ohne islamisches Totengebet zu Grabe getragen werden. Dass von Afrin nie eine konkrete terroristische Bedrohung für die Türkei ausging, ist nicht entscheidend. Afrin ist ihr Sündenbock. Am 5. September 2012 – die Schlacht um Aleppo brach wenige Wochen zuvor mit aller Brutalität aus – posaunte Erdoğan noch, dass der Tag bald kommen werde, an der die türkischen und syrischen Brüder in der Damaszener Umayyaden-Moschee beten werden. Am 30. Juni 2012 wurde in Ägypten der Muslimbruder Muhammed Mursi als Staatspräsident vereidigt. Eine sunnitische Achse unter türkischer Führung schien näher als je zuvor, einzig Syrien als Satellit eines anderen imperialen Aspiranten, des Irans, musste noch fallen.

Im folgenden Jahr war der Siegeszug der Muslimbrüder in Ägypten wieder beendet. In denselben turbulenten Tagen brachen in Istanbul die ersten mehrtägigen Massenproteste gegen die AK Parti aus. Zudem kam es zum endgültigen Bruch Erdoğans mit der reform-islamistischen Gemeinde von Fethullah Gülen. Die Krise verschleppte sich – und die Umayyaden-Moschee schien fern zu sein. Um das Erreichte bei ihrer Eroberung des Staatsapparates abzusichern, blieben die türkischen Muslimbrüder von Allianzen abhängig. Die bislang stabilste Front begründeten sie mit den Grauen Wölfen der Milliyetçi Hareket Partisi. Angesichts der hysterisch beschworenen Bedrohung der territorialen Integrität durch kurdische Föderalisten gelang ihnen auch ein prekärer Verbund mit dem laizistischen Milieu der zuvor noch als „Ergenekon“-Verschwörer verfolgten ultranationalistischen Militärs und eurasischen Geostrategen.

Die beidseitige verfolgte Konfessionalisierung hat in Syrien vor allem eine weitere Partei gestärkt: die des russischen Ordnungsimperialsten Vladimir Putin, dem Großmeister der Rackets. In Afrin rächt sich Erdoğan dafür, dass die Eroberung von Damaskus gnadenlos gescheitert ist, dass er ohne russische Billigung in Syrien kaum noch einen Schritt machen kann. Während die von den sunnitischen Militanten gehaltenen Territorien – selbst dort, wo sie als befriedet gelten, wie in Azaz – von tödlichen Bandenfehden und Raubökonomie beherrscht werden, haben die Föderalisten trotz der erzwungenen Generalmobilisierung ein Gemeinwesen etabliert, das angesichts der syrischen Katastrophe für viele ein Versprechen ist. Im schleunigst niedergeschriebenen Contract Social ist die Säkularität des Gemeinwesens statuiert und werden Kinderehe, Vielehigkeit, Zwangsheirat, Brautpreis, familiäre Gewalt und weibliche Genitalverstümmelung explizit kriminalisiert. Allein die Existenz der nordsyrischen Föderation ist eine einzige narzisstische Kränkung für die türkischen Muslimbrüder als ambitionierte, aber gescheiterte Großraumstrategen. Mit der Militärkampagne „Operation Olivenzweig“ verfolgt die Türkei nicht nur die Vernichtung der Föderation, sie schleift in Nordsyrien ein weitflächiges Territorium von Afrin nach Manbij und womöglich darüber hinaus, in dem die sunnitischen Militanten und ihre Familien einen von der Türkei gänzlich abhängigen Satelliten begründen sollen, ähnlich wie die Hizbullah im Südlibanon für den Iran. Wer die Protagonisten dieser Satellitengründung sein werden, lässt sich in diesen Tagen in den in Afrin eroberten Grenzdörfern beobachten, wo auf die Armee die İHH folgt, eine islamistische Charité, die in den Steppen der kapitalistischen Universalität als missionarisches Staatssurrogat auftritt. Für Vorbilder hält die İHH Shamil Basayev, den tschetschenischen Warlord und Blutsäufer von Beslan, Ahmet Yasin, die geistige Eminenz der Hamas, und natürlich Necmettin Erbakan, den Begründer der Millî Görüş.

Eine Föderalistin zerstört ein Plakat, mit dem der Ganzkörperschleier propagiert wird

Doch noch ist das städtische Afrin nicht erobert. Für die Straßenschlacht vertraut Erdoğan auf die paramilitärischen Strukturen innerhalb der Gendarmerie und Polizei (Jandarma Özel Harekat – JÖH, Polis Özel Harekat – PÖH). Anders als die Armee der Zwangsrekruten sind sie hoch ideologisierte Kaderorganisationen der Grauen und Grünen Wölfe. In ihren Schlachtgesängen beschwören sie das Reich Turan, die mystische Urheimat aller rassischen Türken, und den Pfad in das Paradies von Fatih Sultan Mehmed, dem „Vater der Eroberung“. Daran, dass die Aggression gegen das föderale Afrin auch eine Drohung mit dem Tod an alle lebensfreudigen Menschen in der Türkei ist, lässt der Führer keinen Zweifel. Auf einem Parteikongress im südtürkischen Kahramanmaraş rief Erdoğan jüngst ein weinendes Mädchen zu sich, das – ganz zugerichtet – in Tarnuniform gkleidet war und eine türkische Flagge in der Brusttasche trug: „Hier haben wir eine unserer Bordo Bereliler. Aber die Bordo Bereliler weinen nicht. JÖH, Oberstleutnant, Bordo Bereliler... Maşallah die türkische Flagge ist auch in deiner Tasche. Wenn sie zur Märtyrerin wird, dann wird sie, so Allah will, damit bedeckt werden. Sie ist für alles bereit. Nicht wahr.“** Die Bordo Bereliler, „diejenigen mit den bordeauxroten Baretten“, sind eine türkische Eliteeinheit mit dem Slogan: „Mit uns kommt der Tod“.

Entscheidend für eine Opposition gegen diese Märtyrerisierung der Türkei wird sein, dass jene Türken, die das Leben lieben und nicht den Tod beschwören, mit der Schuldprojektion und den Opfermythen brechen, die der Republik inhärent sind. Dass die Krisenhaftigkeit der Republik an den Kurden exorziert wird, ist Teil der türkischen Ideologie der Traditionslaizisten. Einen ihrer absurdesten Auftritte hat diese organisierte Projektion am 10. Februar 1999 gehabt, als die türkische Prominenz aus der Kulturindustrie in Abendgarderobe den alevitisch-kurdischen Sänger Ahmet Kaya mit Tischbesteck bewarf und ihn als „unbeschnittenen Zuhälter“, also als Kryptoarmenier, beschimpfte, nachdem dieser auf der Gala mitgeteilt hatte, alsbald auch ein Liedchen auf kurdisch zu singen. Serdar Ortaç, der es heute mit Erdoğan hält, empörte sich: „In dieser Epoche gibt es weder Sultan noch Padishah. Die Türkei ist auf dem Weg Atatürks! Dieses Vaterland gehört uns, nicht anderen!“

Die einzige Hoffnung gegen diese Perpetuierung der türkischen Katastrophe liegt im Moment noch bei den feministisch organisierten Frauen. Es ist ihnen eine Selbstverständlichkeit, dass sie am 8. März, der in der Türkei noch eine Tradition hat, Slogans und Banner auf Kurdisch und Armenisch in Anschlag bringen. Während die türkische Opposition gegen die Islamisierung auf das urbane-bürgerliche und alevitisch-ländliche Milieu beschränkt bleibt, drängen kurdische Feministinnen in die feudalen Abgründe des Südostens vor. Auch an diesem 8. März in Istanbul liefen in den ersten Reihen des Protestmarsches durch die İstiklâl Caddesi ältere kurdische Frauen mit traditioneller Verschleierung und ähnlichen Biografien – Zwangsheirat als junge Mädchen, Schulabbruch, Aufopferung als Mütter, Binnenimmigration in das dörfliche Milieu eines Großstadtslums – mit. Sie demonstrieren vor allem auch dafür, dass es ihren Töchtern und Enkeltöchtern anders ergeht. Auch dieses Jahr dröhnte es wieder „Frau – Leben – Freiheit“ und „Es lebe der Widerstand der Frauen“ auf Kurdisch durch den zentralen Istanbuler Flanierboulevard. Währenddessen rückt das türkische Militär und ihre syrischen Alliierten weiter auf Afrin vor. In den eroberten Dörfern werden Überwältigte als „Schweine“ und „Ungläubige“ beschimpft und hingerichtet, ältere Männer verdächtigt, Eziden zu sein, und darin befragt, wie die islamischen Gebete auszuführen sind, und triumphierend angedroht, in die Mitte von Afrin die Flagge der Shahada (La ilâhe illallah, „Es gibt keinen Gott außer Allah“) zu pflanzen.

Die Föderalisten sind in Syrien alleingelassen mit den Meistern der Rackets von Recep Tayyip Erdoğan über Qasem Soleimani und Hassan Nasrallah bis hin zu Bashar al-Assad und Vladimir Putin. „Wir sind von Feinden umgeben … der Türkei, angeführt von der islamofaschistischen AKP, dem al-Ba'ath-Regime, den (schiitischen Milizionären der) Hashd Sha’abi und den Iranern“, so Abd al-Salam Ahmad, Gründungsmitglied der PYD und zuständig für die Öffentlichkeitsarbeit der in der Föderation administrativen Parteienkoalition TEV-DEM.*** Die Deutschen haben sie für die geopolitische Allianz mit der Türkei der Muslimbrüder und – nur ein wenig diskreter – mit dem klerikalfaschistischen Iran entschieden. Die drohende Vernichtung der säkularen Föderation Nordsyrien mit ihren feministischen Erfolgen lässt sie nicht nur kalt. Mit jeder demonstrativen Umarmung der wechselnden Charakterfratzen aus dem Auswärtigen Amt mit ihrem türkischen Amtskollegen wird die Repression jenen gegenüber angezogen, die sich solidarisch mit den Verteidigern von Afrin erklären. Der Status östlich des Euphrats wird noch von den US-Amerikanern garantiert. Ihnen sind die Föderalisten eine Barriere gegen den Iran, dem die US-Amerikaner in Kirkuk noch den Vorstoß gewährten. Es scheint so, als würden die US-Amerikaner zumindest noch Manbij an Erdoğan aushändigen, um diesen zu besänftigen.

* Die Dokumacılar waren eine türkische Schläferzelle des „Islamischen Staates“, benannt nach ihrem Begründer Mustafa Dokumacı. Ihre Mörder entkrochen vor allem der biederen anatolischen Provinzstadt Adıyaman. Diese brachen mit ihren Familien, die ihre Söhne in aller Konsequenz bei der Polizei denunzierten. Doch ungehindert von den Staatsapparaten reisten diese nach Syrien aus, manche unter ihnen heirateten junge Jihadtouristinnen aus Mönchengladbach. Wieder in der Türkei etablierten sie ein eigenes Rekrutierungsbüro in Adıyaman. Die Eltern rannten gegen die Ignoranz des Staates an, sprachen selbst bei Ahmet Davutoğlu vor, doch der Staat schien nicht daran interessiert zu sein, das jihadistische Moloch zu stopfen. Am 5. Juni 2015 erschütterte eine Detonation ein Meeting der oppositionellen Halkların Demokratik Partisi in Diyarbakır. Am 20. Juli 2015 riss in Suruç, dem türkischen Grenzstädtchen gegenüber Kobanê, eine suizidale Bestie 34 Angehörige einer Solidaritätsbrigade mit in den Tod, die die Menschen in Kobanê nicht den Ruinen oder dem türkisch-griechischen Toten Meer überlassen wollten. Es folgte im Herbst das verheerende suicide bombing von Ankara mit über hundert Toten während eines Friedensmarsches.
** In der türkischen Nationalversammlung ließ Erdoğan jüngst ein verschleiertes Kleinkind jenes Gedicht aufsagen, für das er selbst noch im Jahr 1999 wenige Monate in Haft saß: „Die Moscheen sind unsere Kasernen, die Kuppeln unsere Helme, die Minarette unsere Bajonette und die Gläubigen unsere Soldaten.“
*** Den khomeinistischen Iran charakterisiert Ahmad als „die andere Gesichtshälfte von Daʿish … dem schiitischen Antlitz des islamischen Kalifats“. Das von Vadimir Putin und Qasem Soleinami abhängige al-Ba'ath-Regime sieht er als „foundational cause“ der syrischen Katastrophe.

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